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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

so vollständig vergessen lassen und seinen Spruch: vilsxi MtjMw, se väl
irücMtatsm? Wer hat dein Herzblut also vergiftet, du stolzes Volk, du Träger
der Staatsidee xar öxesllönczs? Jede Seite der italienischen Staatsgeschichte
giebt die Antwort. Auf jeder Seite ein neuer Lästerer des Rechtsstaats, ein
neuer Apologet der Willkür, ein neuer Schwächling und Phrasenheld. Nachdem
die Anarchie die Freiheit erstickt hatte, begrub die Hierarchie im mystischen Ge¬
wände jeden Aufschwung zu einer realen Politik. Wir haben einen 30jährigen,
Italien hat einen 300 jährigen Krieg gehabt. Italien ist ein erschreckendes Bei¬
spiel dafür, wie tief ein hochstehendes Culturvolk sinken kann, wenn im Volks¬
gemüthe das Vertrauen zum Staate verloren geht.

Aber wie ist es denkbar, hören wir den Leser fragen, daß ein Räuberstaat
im Staate auch nur sechs Wochen lang bestehen kann, wenn ein Polizeipräfeet
und zwei Regimenter Gensdarmerie im Lande sind? -- Um solche Zustände
zu begreifen, darf man nie vergessen, daß dieselben als Folgen langjähriger
staatlicher Mißwirthschast mit dem gesammten Volksleben verbrüdert und
verschwägert, ja daß bei einem großen Theile der Bevölkerung die Grund¬
ideen derselben förmliche Gehirnsubstanz geworden sind. Mögen die Beam¬
ten und Gensdarmen mit dem besten Willen nach Neapel oder Sicilien kom¬
men, der Sicilianer erkennt nicht sie, sondern die Mafia als seine ange¬
stammte Ordnung an. Was jedes Kind auf der Straße weiß, daß dieser
Herr ein Mafioso ist, daß jener Strolch sich im Hause Ur. 15 verborgen hält,
das erfährt der Polizeipräfeet und sein Beamtentum nie oder erst wenn es zu
spät ist. Es ist eine große Verschwörung des Schweigens und der Täuschung.
Die Beamten sehen sich rathlos um; sie treffen anständig aussehende Leute,
Rathsherren in Palermo, Bürgermeister auf dem Lande; diese liefern ihnen die
ersten Jndicien, bezeichnen ihnen Schuldige. Nun werden Processe begonnen, Be¬
richte geschrieben, und nach monatelangem Mühen merken sie, daß die ehren¬
werthen Herren sie auf ganz falsche Fährte geleitet haben, daß die Rathsherren
selbst Mafiosi, daß die Bürgermeister oder Vorsteher frommer Stiftungen auf
Empfehlung der Mafia angestellt waren. Greift ein Beamter scharfsichtiger und
energischer zu, sofort hat die Mafia ein Dutzend Zeitungen an der Hand, die
mit all dem abgelegten Rüstzeuge der liberalen Phrasen, mit Autokratie, Ver¬
letzung der Freiheit des Volkes u. s. w. gegen den Mann losklappern; sie schafft
ihm ein paar kleine Emeuten, bei denen sechs unschuldige Hausbesitzer nebenher
in Schaden gerathen; bis in die Kammern reicht der Scandal, wo die sicilia-
nischen Abgeordneten hellstimmig versichern, in ihrem Lande seien keine Aus¬
nahmemaßregeln nöthig. Die Regierung muß den Mann wohl oder übel ab¬
rufen. Auch andere Mittel stehen zur Verfügung. Bei Caltaniseita drängen sich
nach der Sonntagsmesse zwanzig Menschen um einen gefürchteten Polizeiinspector.


Die destructiven Elemente im Staate.

so vollständig vergessen lassen und seinen Spruch: vilsxi MtjMw, se väl
irücMtatsm? Wer hat dein Herzblut also vergiftet, du stolzes Volk, du Träger
der Staatsidee xar öxesllönczs? Jede Seite der italienischen Staatsgeschichte
giebt die Antwort. Auf jeder Seite ein neuer Lästerer des Rechtsstaats, ein
neuer Apologet der Willkür, ein neuer Schwächling und Phrasenheld. Nachdem
die Anarchie die Freiheit erstickt hatte, begrub die Hierarchie im mystischen Ge¬
wände jeden Aufschwung zu einer realen Politik. Wir haben einen 30jährigen,
Italien hat einen 300 jährigen Krieg gehabt. Italien ist ein erschreckendes Bei¬
spiel dafür, wie tief ein hochstehendes Culturvolk sinken kann, wenn im Volks¬
gemüthe das Vertrauen zum Staate verloren geht.

Aber wie ist es denkbar, hören wir den Leser fragen, daß ein Räuberstaat
im Staate auch nur sechs Wochen lang bestehen kann, wenn ein Polizeipräfeet
und zwei Regimenter Gensdarmerie im Lande sind? — Um solche Zustände
zu begreifen, darf man nie vergessen, daß dieselben als Folgen langjähriger
staatlicher Mißwirthschast mit dem gesammten Volksleben verbrüdert und
verschwägert, ja daß bei einem großen Theile der Bevölkerung die Grund¬
ideen derselben förmliche Gehirnsubstanz geworden sind. Mögen die Beam¬
ten und Gensdarmen mit dem besten Willen nach Neapel oder Sicilien kom¬
men, der Sicilianer erkennt nicht sie, sondern die Mafia als seine ange¬
stammte Ordnung an. Was jedes Kind auf der Straße weiß, daß dieser
Herr ein Mafioso ist, daß jener Strolch sich im Hause Ur. 15 verborgen hält,
das erfährt der Polizeipräfeet und sein Beamtentum nie oder erst wenn es zu
spät ist. Es ist eine große Verschwörung des Schweigens und der Täuschung.
Die Beamten sehen sich rathlos um; sie treffen anständig aussehende Leute,
Rathsherren in Palermo, Bürgermeister auf dem Lande; diese liefern ihnen die
ersten Jndicien, bezeichnen ihnen Schuldige. Nun werden Processe begonnen, Be¬
richte geschrieben, und nach monatelangem Mühen merken sie, daß die ehren¬
werthen Herren sie auf ganz falsche Fährte geleitet haben, daß die Rathsherren
selbst Mafiosi, daß die Bürgermeister oder Vorsteher frommer Stiftungen auf
Empfehlung der Mafia angestellt waren. Greift ein Beamter scharfsichtiger und
energischer zu, sofort hat die Mafia ein Dutzend Zeitungen an der Hand, die
mit all dem abgelegten Rüstzeuge der liberalen Phrasen, mit Autokratie, Ver¬
letzung der Freiheit des Volkes u. s. w. gegen den Mann losklappern; sie schafft
ihm ein paar kleine Emeuten, bei denen sechs unschuldige Hausbesitzer nebenher
in Schaden gerathen; bis in die Kammern reicht der Scandal, wo die sicilia-
nischen Abgeordneten hellstimmig versichern, in ihrem Lande seien keine Aus¬
nahmemaßregeln nöthig. Die Regierung muß den Mann wohl oder übel ab¬
rufen. Auch andere Mittel stehen zur Verfügung. Bei Caltaniseita drängen sich
nach der Sonntagsmesse zwanzig Menschen um einen gefürchteten Polizeiinspector.


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[0123] Die destructiven Elemente im Staate. so vollständig vergessen lassen und seinen Spruch: vilsxi MtjMw, se väl irücMtatsm? Wer hat dein Herzblut also vergiftet, du stolzes Volk, du Träger der Staatsidee xar öxesllönczs? Jede Seite der italienischen Staatsgeschichte giebt die Antwort. Auf jeder Seite ein neuer Lästerer des Rechtsstaats, ein neuer Apologet der Willkür, ein neuer Schwächling und Phrasenheld. Nachdem die Anarchie die Freiheit erstickt hatte, begrub die Hierarchie im mystischen Ge¬ wände jeden Aufschwung zu einer realen Politik. Wir haben einen 30jährigen, Italien hat einen 300 jährigen Krieg gehabt. Italien ist ein erschreckendes Bei¬ spiel dafür, wie tief ein hochstehendes Culturvolk sinken kann, wenn im Volks¬ gemüthe das Vertrauen zum Staate verloren geht. Aber wie ist es denkbar, hören wir den Leser fragen, daß ein Räuberstaat im Staate auch nur sechs Wochen lang bestehen kann, wenn ein Polizeipräfeet und zwei Regimenter Gensdarmerie im Lande sind? — Um solche Zustände zu begreifen, darf man nie vergessen, daß dieselben als Folgen langjähriger staatlicher Mißwirthschast mit dem gesammten Volksleben verbrüdert und verschwägert, ja daß bei einem großen Theile der Bevölkerung die Grund¬ ideen derselben förmliche Gehirnsubstanz geworden sind. Mögen die Beam¬ ten und Gensdarmen mit dem besten Willen nach Neapel oder Sicilien kom¬ men, der Sicilianer erkennt nicht sie, sondern die Mafia als seine ange¬ stammte Ordnung an. Was jedes Kind auf der Straße weiß, daß dieser Herr ein Mafioso ist, daß jener Strolch sich im Hause Ur. 15 verborgen hält, das erfährt der Polizeipräfeet und sein Beamtentum nie oder erst wenn es zu spät ist. Es ist eine große Verschwörung des Schweigens und der Täuschung. Die Beamten sehen sich rathlos um; sie treffen anständig aussehende Leute, Rathsherren in Palermo, Bürgermeister auf dem Lande; diese liefern ihnen die ersten Jndicien, bezeichnen ihnen Schuldige. Nun werden Processe begonnen, Be¬ richte geschrieben, und nach monatelangem Mühen merken sie, daß die ehren¬ werthen Herren sie auf ganz falsche Fährte geleitet haben, daß die Rathsherren selbst Mafiosi, daß die Bürgermeister oder Vorsteher frommer Stiftungen auf Empfehlung der Mafia angestellt waren. Greift ein Beamter scharfsichtiger und energischer zu, sofort hat die Mafia ein Dutzend Zeitungen an der Hand, die mit all dem abgelegten Rüstzeuge der liberalen Phrasen, mit Autokratie, Ver¬ letzung der Freiheit des Volkes u. s. w. gegen den Mann losklappern; sie schafft ihm ein paar kleine Emeuten, bei denen sechs unschuldige Hausbesitzer nebenher in Schaden gerathen; bis in die Kammern reicht der Scandal, wo die sicilia- nischen Abgeordneten hellstimmig versichern, in ihrem Lande seien keine Aus¬ nahmemaßregeln nöthig. Die Regierung muß den Mann wohl oder übel ab¬ rufen. Auch andere Mittel stehen zur Verfügung. Bei Caltaniseita drängen sich nach der Sonntagsmesse zwanzig Menschen um einen gefürchteten Polizeiinspector.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/123>, abgerufen am 27.12.2024.