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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Zwar hatte Abdera selbst große Männer hervorgebracht: der liebenswürdige
Demokrit und der tiefernste Protagoras hatten hier zuerst das Sonnenlicht be¬
grüßt. Und diese Leuchten am Himmel der Erkenntniß bürgen dafür, daß in
ihrer Vaterstadt auch minder große Sterne geglänzt haben werden. Die Ge¬
schichte knüpft ja überall nur an wenige große Namen an; die meisten sterben
den Tod der Vergessenheit. Zudem ist erwiesen, daß nicht die Mehrheit von
Abderas Bürgern so kleinstädtisch und spießbürgerlich, so beschränkt und doch
so hochmüthig war, wie die Welt nach dem Übeln Rufe der Stadt glaubte,
sondern daß eine verhältnißmäßig kleine Minderheit dafür verantwortlich zu
machen war. Denn in der freien See- und Hansestadt Abdera waren die
minder wohlhabenden und die von Handarbeit lebenden Bürger unfrei und
abhängig; sie mußten zur Erhaltung und Förderung ihres Wohlergehens oft
mit dem Munde Beifall zollen, wenn der Kopf widersprach und das Herz
sogar grollte. Wem es wohl ergehen sollte in Abdera, der mußte eben ein
Addern sein. So kam es denn oft, daß jene Minderheit in Gemeindenngelegen¬
heiten siegte und für die Beschlüsse und Thaten, welche die Minderheit ver¬
schuldete, die ganze Stadt verantwortlich gemacht wurde. Sämmtliche Bewohner
mußten den Fluch der Lächerlichkeit tragen, der allein gegen eine Patricische
Clique und ihre bezahlten Rathgeber hätte geschleudert werden sollen.

Diese Sippe herrschte über die Bürger durch die Macht ihres Besitzes an
iiußeru Gütern in willkürlicher Weise, und diese ihre Willkür nannten sie
Freiheit. Sie hatte den größten Grundbesitz und die meisten Schisse. Sie
war im Besitz aller Heloten, und alle Genüsse, die Reichthum gewähren kann,
vermochten sie sich zu verschaffen. Sie hing an dem Glaubenssätze, daß das
Menschengeschlecht, wenn es eine gewisse Höhe der Bildung erreicht habe, den
alten Weg aufs neue anfangen müsse und deshalb nie im Stande sein werde, über
jene ^.einmal erklommene Höhe hinauszukommen; diese Höhe der Bildung aber
bezeichne eben Wissen und Können der Abderiten. Zu dieser großartigen Welt¬
anschauung hatte sie der Wahn verleitet, Abdera müsse immer eine freie See- und
Hansestadt bleiben und jeder Addern thun und treiben können, was ihm be¬
liebe. Uebrigens war diese Ansicht gar nicht so einfältig, denn die Anführer
wußten sehr wohl, daß sie nur dabei profitieren konnten; waren sie doch
die einzig freien unter dem Aushängeschilde der allgemeinen Freiheit.

So lange Abdera seinen Tribut in die Staatskasse zu Athen pünktlich
zahlte, kehrten sich die Lenker des Staates nicht an die sonderbaren Blasen,
die das enge Gehirn der abderitischen Häuptlinge von Zeit zu Zeit aufwarf;
sie lachten uur dazu. Nun geschah es, daß die vom Handwerk und Klein¬
handel lebenden Einwohner Abderas bei den Archonten Athens wieder ein¬
mal ernste Klage darüber führten, daß sie die Gegenstände ihres Geschäfts-


Zwar hatte Abdera selbst große Männer hervorgebracht: der liebenswürdige
Demokrit und der tiefernste Protagoras hatten hier zuerst das Sonnenlicht be¬
grüßt. Und diese Leuchten am Himmel der Erkenntniß bürgen dafür, daß in
ihrer Vaterstadt auch minder große Sterne geglänzt haben werden. Die Ge¬
schichte knüpft ja überall nur an wenige große Namen an; die meisten sterben
den Tod der Vergessenheit. Zudem ist erwiesen, daß nicht die Mehrheit von
Abderas Bürgern so kleinstädtisch und spießbürgerlich, so beschränkt und doch
so hochmüthig war, wie die Welt nach dem Übeln Rufe der Stadt glaubte,
sondern daß eine verhältnißmäßig kleine Minderheit dafür verantwortlich zu
machen war. Denn in der freien See- und Hansestadt Abdera waren die
minder wohlhabenden und die von Handarbeit lebenden Bürger unfrei und
abhängig; sie mußten zur Erhaltung und Förderung ihres Wohlergehens oft
mit dem Munde Beifall zollen, wenn der Kopf widersprach und das Herz
sogar grollte. Wem es wohl ergehen sollte in Abdera, der mußte eben ein
Addern sein. So kam es denn oft, daß jene Minderheit in Gemeindenngelegen¬
heiten siegte und für die Beschlüsse und Thaten, welche die Minderheit ver¬
schuldete, die ganze Stadt verantwortlich gemacht wurde. Sämmtliche Bewohner
mußten den Fluch der Lächerlichkeit tragen, der allein gegen eine Patricische
Clique und ihre bezahlten Rathgeber hätte geschleudert werden sollen.

Diese Sippe herrschte über die Bürger durch die Macht ihres Besitzes an
iiußeru Gütern in willkürlicher Weise, und diese ihre Willkür nannten sie
Freiheit. Sie hatte den größten Grundbesitz und die meisten Schisse. Sie
war im Besitz aller Heloten, und alle Genüsse, die Reichthum gewähren kann,
vermochten sie sich zu verschaffen. Sie hing an dem Glaubenssätze, daß das
Menschengeschlecht, wenn es eine gewisse Höhe der Bildung erreicht habe, den
alten Weg aufs neue anfangen müsse und deshalb nie im Stande sein werde, über
jene ^.einmal erklommene Höhe hinauszukommen; diese Höhe der Bildung aber
bezeichne eben Wissen und Können der Abderiten. Zu dieser großartigen Welt¬
anschauung hatte sie der Wahn verleitet, Abdera müsse immer eine freie See- und
Hansestadt bleiben und jeder Addern thun und treiben können, was ihm be¬
liebe. Uebrigens war diese Ansicht gar nicht so einfältig, denn die Anführer
wußten sehr wohl, daß sie nur dabei profitieren konnten; waren sie doch
die einzig freien unter dem Aushängeschilde der allgemeinen Freiheit.

So lange Abdera seinen Tribut in die Staatskasse zu Athen pünktlich
zahlte, kehrten sich die Lenker des Staates nicht an die sonderbaren Blasen,
die das enge Gehirn der abderitischen Häuptlinge von Zeit zu Zeit aufwarf;
sie lachten uur dazu. Nun geschah es, daß die vom Handwerk und Klein¬
handel lebenden Einwohner Abderas bei den Archonten Athens wieder ein¬
mal ernste Klage darüber führten, daß sie die Gegenstände ihres Geschäfts-


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[0469] Zwar hatte Abdera selbst große Männer hervorgebracht: der liebenswürdige Demokrit und der tiefernste Protagoras hatten hier zuerst das Sonnenlicht be¬ grüßt. Und diese Leuchten am Himmel der Erkenntniß bürgen dafür, daß in ihrer Vaterstadt auch minder große Sterne geglänzt haben werden. Die Ge¬ schichte knüpft ja überall nur an wenige große Namen an; die meisten sterben den Tod der Vergessenheit. Zudem ist erwiesen, daß nicht die Mehrheit von Abderas Bürgern so kleinstädtisch und spießbürgerlich, so beschränkt und doch so hochmüthig war, wie die Welt nach dem Übeln Rufe der Stadt glaubte, sondern daß eine verhältnißmäßig kleine Minderheit dafür verantwortlich zu machen war. Denn in der freien See- und Hansestadt Abdera waren die minder wohlhabenden und die von Handarbeit lebenden Bürger unfrei und abhängig; sie mußten zur Erhaltung und Förderung ihres Wohlergehens oft mit dem Munde Beifall zollen, wenn der Kopf widersprach und das Herz sogar grollte. Wem es wohl ergehen sollte in Abdera, der mußte eben ein Addern sein. So kam es denn oft, daß jene Minderheit in Gemeindenngelegen¬ heiten siegte und für die Beschlüsse und Thaten, welche die Minderheit ver¬ schuldete, die ganze Stadt verantwortlich gemacht wurde. Sämmtliche Bewohner mußten den Fluch der Lächerlichkeit tragen, der allein gegen eine Patricische Clique und ihre bezahlten Rathgeber hätte geschleudert werden sollen. Diese Sippe herrschte über die Bürger durch die Macht ihres Besitzes an iiußeru Gütern in willkürlicher Weise, und diese ihre Willkür nannten sie Freiheit. Sie hatte den größten Grundbesitz und die meisten Schisse. Sie war im Besitz aller Heloten, und alle Genüsse, die Reichthum gewähren kann, vermochten sie sich zu verschaffen. Sie hing an dem Glaubenssätze, daß das Menschengeschlecht, wenn es eine gewisse Höhe der Bildung erreicht habe, den alten Weg aufs neue anfangen müsse und deshalb nie im Stande sein werde, über jene ^.einmal erklommene Höhe hinauszukommen; diese Höhe der Bildung aber bezeichne eben Wissen und Können der Abderiten. Zu dieser großartigen Welt¬ anschauung hatte sie der Wahn verleitet, Abdera müsse immer eine freie See- und Hansestadt bleiben und jeder Addern thun und treiben können, was ihm be¬ liebe. Uebrigens war diese Ansicht gar nicht so einfältig, denn die Anführer wußten sehr wohl, daß sie nur dabei profitieren konnten; waren sie doch die einzig freien unter dem Aushängeschilde der allgemeinen Freiheit. So lange Abdera seinen Tribut in die Staatskasse zu Athen pünktlich zahlte, kehrten sich die Lenker des Staates nicht an die sonderbaren Blasen, die das enge Gehirn der abderitischen Häuptlinge von Zeit zu Zeit aufwarf; sie lachten uur dazu. Nun geschah es, daß die vom Handwerk und Klein¬ handel lebenden Einwohner Abderas bei den Archonten Athens wieder ein¬ mal ernste Klage darüber führten, daß sie die Gegenstände ihres Geschäfts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/469>, abgerufen am 29.12.2024.