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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Auch für unsere Kunde gewährt dieser Zeitpunkt einen wichtigen Abschnitt.
Die ersten Regungen und Errungenschaften der Erdkugelgeographie mußten aus
spärlichen und zerstreuten Notizen erschlossen werden. Jetzt treten uns die
einzelnen Träger der weitern Entwicklung entgegen. Ihre Werke sind zwar
verloren gegangen, lassen sich aber doch aus den zahlreich erhaltenen Bruch¬
stücken so weit wieder herstellen, daß man einen Gesammtüberblick über ihre
Leistungen gewinnen kann. Während die ältern Karten immer nur genannt
werden, und von denselben höchstens bekannt wird, wie sie beeinflußt von der
Zonenlehre einen andern Umriß gewannen, daß sie, wie die Angaben nach
Ephorus lauten, an den Nordrand die Skythen, an den Südrand die Aethiopen,
in den Osten die Inder und in den Westen die Kelten versetzten, läßt sich die
Dicäarchisch - Eratvsthenische Karte nach ihrer Anlage im großen und ganzen
nachweisen und zeigt uns zuerst das Material der Hilfswissenschaften in voller
und planmäßiger geographischer Anwendung.

Hier ist zunächst eines Mannes zu gedenken, welcher der eben angenom¬
menen Epoche nur mittelbar angehört und eine der merkwürdigsten Erscheinungen
der griechischen Geographie darbietet. Es ist der Massilier Pytheas, wie man
schließen darf, ein Zeitgenosse des Aristoteles. Sein Buch, das wie andere
geographische Werke den Titel "über den Okeanos" führte, ist verloren gegaugen
bis auf wenige in der Wiedergabe stark verdunkelte Fragmente. Während die
bedeutendsten Vertreter der wissenschaftlichen Geographie der Folgezeit ihn un-
gescheut benutzten, wird er von andern angezweifelt, von den meisten als
Lügner verschrieen. Befangenheit in gewissen Grundsätzen der Theorien und
das oben hervorgehobene an sich wohlbegründete Streben nach scharfer Controle
des zu benutzenden Stoffes, waren, wie sich hie und da zeigen wird, die Haupt¬
gründe dafür. Was sich mit Sicherheit von ihm berichten läßt, mag folgendes
sein. Er bestimmte die Lage des Nordpols der Himmelskugel genauer als
seine Zeitgenossen, wie der große Astronom Hipparch fast zweihundert Jahre
nach ihm lobend hervorhebt. Er umsegelte die Westküsten Europas, noch weiß
man nicht unter welchen Verhältnissen, und behauptete, bis zum nördlichen
Polarkreise, wo der Wendekreis mit dem Kreise der immer sichtbaren Gestirne
zusammenfällt, also bis zum Eintritts des längsten Tages von 24 Stunden,
bis zur Nordgrenze der nach den Schattenverhältnissen abgesteckten gemäßigten
Zone gelangt zu sein und bis dahin bewohnbare Gegenden gefunden zu haben.
Es finden sich von ihm gewisse von Hipparch als Breitenangaben benutzte
Notizen über die Sonnenhöhen des Wintersolstitiums, die bis 61" n. Br.
reichen. Er bestimmte nach dem Verhältnisse des Gnomons zum Schatten die
Breite seiner Vaterstadt Massilia auf 43- n. Br. Seine Beschreibung der West¬
küsten von Europa, die Eratosthenes annahm, war im Alterthum die einzige,


Auch für unsere Kunde gewährt dieser Zeitpunkt einen wichtigen Abschnitt.
Die ersten Regungen und Errungenschaften der Erdkugelgeographie mußten aus
spärlichen und zerstreuten Notizen erschlossen werden. Jetzt treten uns die
einzelnen Träger der weitern Entwicklung entgegen. Ihre Werke sind zwar
verloren gegangen, lassen sich aber doch aus den zahlreich erhaltenen Bruch¬
stücken so weit wieder herstellen, daß man einen Gesammtüberblick über ihre
Leistungen gewinnen kann. Während die ältern Karten immer nur genannt
werden, und von denselben höchstens bekannt wird, wie sie beeinflußt von der
Zonenlehre einen andern Umriß gewannen, daß sie, wie die Angaben nach
Ephorus lauten, an den Nordrand die Skythen, an den Südrand die Aethiopen,
in den Osten die Inder und in den Westen die Kelten versetzten, läßt sich die
Dicäarchisch - Eratvsthenische Karte nach ihrer Anlage im großen und ganzen
nachweisen und zeigt uns zuerst das Material der Hilfswissenschaften in voller
und planmäßiger geographischer Anwendung.

Hier ist zunächst eines Mannes zu gedenken, welcher der eben angenom¬
menen Epoche nur mittelbar angehört und eine der merkwürdigsten Erscheinungen
der griechischen Geographie darbietet. Es ist der Massilier Pytheas, wie man
schließen darf, ein Zeitgenosse des Aristoteles. Sein Buch, das wie andere
geographische Werke den Titel „über den Okeanos" führte, ist verloren gegaugen
bis auf wenige in der Wiedergabe stark verdunkelte Fragmente. Während die
bedeutendsten Vertreter der wissenschaftlichen Geographie der Folgezeit ihn un-
gescheut benutzten, wird er von andern angezweifelt, von den meisten als
Lügner verschrieen. Befangenheit in gewissen Grundsätzen der Theorien und
das oben hervorgehobene an sich wohlbegründete Streben nach scharfer Controle
des zu benutzenden Stoffes, waren, wie sich hie und da zeigen wird, die Haupt¬
gründe dafür. Was sich mit Sicherheit von ihm berichten läßt, mag folgendes
sein. Er bestimmte die Lage des Nordpols der Himmelskugel genauer als
seine Zeitgenossen, wie der große Astronom Hipparch fast zweihundert Jahre
nach ihm lobend hervorhebt. Er umsegelte die Westküsten Europas, noch weiß
man nicht unter welchen Verhältnissen, und behauptete, bis zum nördlichen
Polarkreise, wo der Wendekreis mit dem Kreise der immer sichtbaren Gestirne
zusammenfällt, also bis zum Eintritts des längsten Tages von 24 Stunden,
bis zur Nordgrenze der nach den Schattenverhältnissen abgesteckten gemäßigten
Zone gelangt zu sein und bis dahin bewohnbare Gegenden gefunden zu haben.
Es finden sich von ihm gewisse von Hipparch als Breitenangaben benutzte
Notizen über die Sonnenhöhen des Wintersolstitiums, die bis 61« n. Br.
reichen. Er bestimmte nach dem Verhältnisse des Gnomons zum Schatten die
Breite seiner Vaterstadt Massilia auf 43- n. Br. Seine Beschreibung der West¬
küsten von Europa, die Eratosthenes annahm, war im Alterthum die einzige,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/415>, abgerufen am 29.12.2024.