Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.überzeugt sein, daß sein starres Judenthum gebrochen ist. Nur der christliche Ich weiß, daß viele, im Bewußtsein höherer sittlicher Prinzipien sich wie¬ Ein Jeder von uns ist die Frucht seiner Zeit und steht unter dem Einflüsse überzeugt sein, daß sein starres Judenthum gebrochen ist. Nur der christliche Ich weiß, daß viele, im Bewußtsein höherer sittlicher Prinzipien sich wie¬ Ein Jeder von uns ist die Frucht seiner Zeit und steht unter dem Einflüsse <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0314" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147961"/> <p xml:id="ID_855" prev="#ID_854"> überzeugt sein, daß sein starres Judenthum gebrochen ist. Nur der christliche<lb/> Fanatismus vermag einen Ruhm darin zu sehen, die Blindheit des jüdischen<lb/> Eiferers in die Blindheit des christlichen Eiferers umzuwandeln. Und ohne<lb/> Bildung wird man es schwer finden, den Juden davon zu überreden, daß ein<lb/> Bekenntniß, welches in seinen Augen eine Irrlehre des Judenthums ist, welches<lb/> vor neunzehn Jahrhunderten durch den Abfall von dem Glauben des Moses<lb/> entstand, vorzuziehen sei der alten und erhabenen Religion Jehovahs. Der<lb/> Christ ist heute noch für den Juden ein abtrünniger Ketzer. So geringe Ge¬<lb/> walt aber der Geist der christlichen Lehre auf den Geist Israels ausübt, so<lb/> groß ist die Gewalt der christlich-europäischen Bildung auf ihn. Sie ist so<lb/> groß, daß der in diesem Geiste gebildete Jude fast unfehlbar von der jüdischen<lb/> Theokratie abfällt und dann im weitern Verlauf immer inniger mit christlicher<lb/> Cultur und zuletzt mit dem christlichen Bekenntniß verwächst. Intermission<lb/> steht im Grunde auf demselben Boden wie religiöse Judenverfolgung. Und sie<lb/> ist ebenso wirkungslos und hoffnungslos wie die gewaltsame Intoleranz gegen¬<lb/> über der jüdischen Glaubenslehre.</p><lb/> <p xml:id="ID_856"> Ich weiß, daß viele, im Bewußtsein höherer sittlicher Prinzipien sich wie¬<lb/> gend, solche Forderungen für eine verkappte Judenhetze erklären werden. Sie<lb/> werden es für humaner und sittlicher erklären, den Juden in Rußland Rechts¬<lb/> gleichheit zu verschaffen, was so viel wäre, als bessere Erwerbsgelegenheit. An¬<lb/> dere werden meine Vorschläge" für nutzlos halten, weil sie ihrer Meinung nach<lb/> ihr Ziel nicht erreichen werden. Die Meinung ist weit verbreitet, daß der<lb/> innerste Grund der Feindschaft gegen das Judenthum nicht in der Art des<lb/> Thuns und Wirkens des Juden liegt, sondern in dem innersten Wesen desselben,<lb/> nicht in der heutigen Gestalt und dem Charakter des Juden, sondern in seiner<lb/> ewig unveränderten Volksart, nicht in der Art seines individuellen Geistes und<lb/> Sitte, sondern in dem unveränderlichen Rassenhasse, der von jeher zwischen dem<lb/> Juden und Nichtjuden stehe. Ich will mit diesen nicht streiten. Denn diese<lb/> Meinung ist eine Sache des Glaubens; sie mag gelten und mit Ueberzeugung<lb/> gehegt werden. Allein ich würde zögern, nach diesem Glaube» zu handeln.</p><lb/> <p xml:id="ID_857" next="#ID_858"> Ein Jeder von uns ist die Frucht seiner Zeit und steht unter dem Einflüsse<lb/> von Meinungen, welche er für Urtheile hält, während sie vielleicht von einer<lb/> andern Zeit für Vorurtheile werden gehalten werden. Wir beobachten täglich<lb/> das Vorhandensein des Rassenhasses, oder besser des Gegensatzes der Rasse.<lb/> Aber dieser Gegensatz, so wirklich er ist, wurzelt nicht in der Denkweise des<lb/> Einzelnen, sondern in dem Denken von vielen Generationen. Wenigstens gegen¬<lb/> über der semitischen Rasse. Er ist gleichsam nicht mein Gedanke, nicht mein<lb/> Empfinden, sondern dasjenige vieler Geschlechter. Aus welchen Quellen, ob<lb/> lauteren oder unlauteren, diese Gesinnung entsprang, mit welchen Gründen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0314]
überzeugt sein, daß sein starres Judenthum gebrochen ist. Nur der christliche
Fanatismus vermag einen Ruhm darin zu sehen, die Blindheit des jüdischen
Eiferers in die Blindheit des christlichen Eiferers umzuwandeln. Und ohne
Bildung wird man es schwer finden, den Juden davon zu überreden, daß ein
Bekenntniß, welches in seinen Augen eine Irrlehre des Judenthums ist, welches
vor neunzehn Jahrhunderten durch den Abfall von dem Glauben des Moses
entstand, vorzuziehen sei der alten und erhabenen Religion Jehovahs. Der
Christ ist heute noch für den Juden ein abtrünniger Ketzer. So geringe Ge¬
walt aber der Geist der christlichen Lehre auf den Geist Israels ausübt, so
groß ist die Gewalt der christlich-europäischen Bildung auf ihn. Sie ist so
groß, daß der in diesem Geiste gebildete Jude fast unfehlbar von der jüdischen
Theokratie abfällt und dann im weitern Verlauf immer inniger mit christlicher
Cultur und zuletzt mit dem christlichen Bekenntniß verwächst. Intermission
steht im Grunde auf demselben Boden wie religiöse Judenverfolgung. Und sie
ist ebenso wirkungslos und hoffnungslos wie die gewaltsame Intoleranz gegen¬
über der jüdischen Glaubenslehre.
Ich weiß, daß viele, im Bewußtsein höherer sittlicher Prinzipien sich wie¬
gend, solche Forderungen für eine verkappte Judenhetze erklären werden. Sie
werden es für humaner und sittlicher erklären, den Juden in Rußland Rechts¬
gleichheit zu verschaffen, was so viel wäre, als bessere Erwerbsgelegenheit. An¬
dere werden meine Vorschläge" für nutzlos halten, weil sie ihrer Meinung nach
ihr Ziel nicht erreichen werden. Die Meinung ist weit verbreitet, daß der
innerste Grund der Feindschaft gegen das Judenthum nicht in der Art des
Thuns und Wirkens des Juden liegt, sondern in dem innersten Wesen desselben,
nicht in der heutigen Gestalt und dem Charakter des Juden, sondern in seiner
ewig unveränderten Volksart, nicht in der Art seines individuellen Geistes und
Sitte, sondern in dem unveränderlichen Rassenhasse, der von jeher zwischen dem
Juden und Nichtjuden stehe. Ich will mit diesen nicht streiten. Denn diese
Meinung ist eine Sache des Glaubens; sie mag gelten und mit Ueberzeugung
gehegt werden. Allein ich würde zögern, nach diesem Glaube» zu handeln.
Ein Jeder von uns ist die Frucht seiner Zeit und steht unter dem Einflüsse
von Meinungen, welche er für Urtheile hält, während sie vielleicht von einer
andern Zeit für Vorurtheile werden gehalten werden. Wir beobachten täglich
das Vorhandensein des Rassenhasses, oder besser des Gegensatzes der Rasse.
Aber dieser Gegensatz, so wirklich er ist, wurzelt nicht in der Denkweise des
Einzelnen, sondern in dem Denken von vielen Generationen. Wenigstens gegen¬
über der semitischen Rasse. Er ist gleichsam nicht mein Gedanke, nicht mein
Empfinden, sondern dasjenige vieler Geschlechter. Aus welchen Quellen, ob
lauteren oder unlauteren, diese Gesinnung entsprang, mit welchen Gründen,
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