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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Arzt, Dichter vorzüglich synagvgaler Gesänge, Religionsphilosoph, Moses Ihr
Esra außer seiner Religionsphilosophie und religiöser Dichtung auch weltlicher
Dichter, Abraham Ihr Esra Exeget, Philosoph, Mathematiker und Astronom.
Moses ben Nachman war Arzt, Commentator des Pentatench und synagvgaler
Dichter in kabbalistischen Geiste. Noch vorwiegender als in der jüdisch-spanischen
Hochschule zu Cordova beschäftigten sich mit Exegese der heiligen Schriften und
Religionsphilosophie die jüdischen Weisen der ersten Jahrhunderte nach Christi
Geburt in Palästina, Syrien, Persien, besonders in den babylonisch-jüdischen
und dann arabisch-jüdischen Hochschulen von Sura und Pumbedita. Eben so
ausschließlich in den Talmud versenkte sich um jene Blüthezeit Israels zu An¬
fang unseres Jahrtausends das französisch-provencalische Judenthum. Raschi
wurde die größte Talmudautorität durch seinen Commentar zu demselben, und
dieser Commentar des Raschi wurde später nicht weniger als fünfzigmal wie¬
derum commentirt von andern Gelehrten, während sich eine ganze Schule des
Raschi, die Tosafisten, damit beschäftigte, die Kommentare ihres Meisters durch
Zusätze zu ergänzen. Einer der berühmtesten jüdischen Staatsmänner in fremden
Diensten, der Steuerpächter am Hofe Ferdinands und Jsabellas, Don Jsaak
Abravenel, widmete seine litterarische Thätigkeit ganz der Erläuterung einiger
Bücher der Bibel. Joseph Karo, "das Haupt seines Zeitalters", arbeitete
32 Jahre lang, im 16. Jahrhundert, an einem Commentare zum Ritualcodex
des Jakob den Ascher und verfaßte dann einen neuen großen Religionscodex.
Seit Abschluß der Bibel ist die geistige Arbeit der jüdischen Weisen haupt¬
sächlich gerichtet gewesen auf Erklärung der Bibel und Dichtung von Gebeten und
religiösen Gesängen. In beider Hinsicht ist ein Stoff angehäuft worden, der an
Mannigfaltigkeit und Scharfsinn nicht seinesgleichen hat, der aber dennoch in
einen so engen Geistesraum eingezwängt ist, daß er für die Nahrung eines mittleren
Geistes unserer Zeit nicht genügen würde. Eine haarspaltende Dialektik hat jedes
Wort, jede Silbe aus dem Munde Mosis tausendfach und abertausendfach gewogen
und geschliffen; hat die weisen Lebensregeln des Gesetzgebers kasuistisch in einen
Berg von Münzen ausgeprägt, so daß es kaum mehr möglich ist, die eine von der
andern zu unterscheiden, und wenig Sophistik dazu gehört, im gegebenen Falle
die eine gegen eine andere auszutauschen. Das religiöse Gefühl wie das sittliche
Bewußtsein wurden in unzählige Formeln aufgelöst. Dieser Formalismus
brachte es dahin, daß an die Stelle einfachen religiösen Lebens die Beobach¬
tung zahlloser kleiner Vorschriften trat. Es wurde zur Religion, die Reinheit
des geschlachteten Stieres von Hunderten kleiner Merkmale abhängig zu machen,
die der Schlächter an Lunge, Leber, Haut, Blut des geschlachteten Thieres ent¬
deckte und über deren Bedeutung im Zweifel der Rabbiner und die Weisen
urtheilen mußten. An die Stelle einfacher Sittengesetze trat ein unerschöpflicher


Arzt, Dichter vorzüglich synagvgaler Gesänge, Religionsphilosoph, Moses Ihr
Esra außer seiner Religionsphilosophie und religiöser Dichtung auch weltlicher
Dichter, Abraham Ihr Esra Exeget, Philosoph, Mathematiker und Astronom.
Moses ben Nachman war Arzt, Commentator des Pentatench und synagvgaler
Dichter in kabbalistischen Geiste. Noch vorwiegender als in der jüdisch-spanischen
Hochschule zu Cordova beschäftigten sich mit Exegese der heiligen Schriften und
Religionsphilosophie die jüdischen Weisen der ersten Jahrhunderte nach Christi
Geburt in Palästina, Syrien, Persien, besonders in den babylonisch-jüdischen
und dann arabisch-jüdischen Hochschulen von Sura und Pumbedita. Eben so
ausschließlich in den Talmud versenkte sich um jene Blüthezeit Israels zu An¬
fang unseres Jahrtausends das französisch-provencalische Judenthum. Raschi
wurde die größte Talmudautorität durch seinen Commentar zu demselben, und
dieser Commentar des Raschi wurde später nicht weniger als fünfzigmal wie¬
derum commentirt von andern Gelehrten, während sich eine ganze Schule des
Raschi, die Tosafisten, damit beschäftigte, die Kommentare ihres Meisters durch
Zusätze zu ergänzen. Einer der berühmtesten jüdischen Staatsmänner in fremden
Diensten, der Steuerpächter am Hofe Ferdinands und Jsabellas, Don Jsaak
Abravenel, widmete seine litterarische Thätigkeit ganz der Erläuterung einiger
Bücher der Bibel. Joseph Karo, „das Haupt seines Zeitalters", arbeitete
32 Jahre lang, im 16. Jahrhundert, an einem Commentare zum Ritualcodex
des Jakob den Ascher und verfaßte dann einen neuen großen Religionscodex.
Seit Abschluß der Bibel ist die geistige Arbeit der jüdischen Weisen haupt¬
sächlich gerichtet gewesen auf Erklärung der Bibel und Dichtung von Gebeten und
religiösen Gesängen. In beider Hinsicht ist ein Stoff angehäuft worden, der an
Mannigfaltigkeit und Scharfsinn nicht seinesgleichen hat, der aber dennoch in
einen so engen Geistesraum eingezwängt ist, daß er für die Nahrung eines mittleren
Geistes unserer Zeit nicht genügen würde. Eine haarspaltende Dialektik hat jedes
Wort, jede Silbe aus dem Munde Mosis tausendfach und abertausendfach gewogen
und geschliffen; hat die weisen Lebensregeln des Gesetzgebers kasuistisch in einen
Berg von Münzen ausgeprägt, so daß es kaum mehr möglich ist, die eine von der
andern zu unterscheiden, und wenig Sophistik dazu gehört, im gegebenen Falle
die eine gegen eine andere auszutauschen. Das religiöse Gefühl wie das sittliche
Bewußtsein wurden in unzählige Formeln aufgelöst. Dieser Formalismus
brachte es dahin, daß an die Stelle einfachen religiösen Lebens die Beobach¬
tung zahlloser kleiner Vorschriften trat. Es wurde zur Religion, die Reinheit
des geschlachteten Stieres von Hunderten kleiner Merkmale abhängig zu machen,
die der Schlächter an Lunge, Leber, Haut, Blut des geschlachteten Thieres ent¬
deckte und über deren Bedeutung im Zweifel der Rabbiner und die Weisen
urtheilen mußten. An die Stelle einfacher Sittengesetze trat ein unerschöpflicher


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[0266] Arzt, Dichter vorzüglich synagvgaler Gesänge, Religionsphilosoph, Moses Ihr Esra außer seiner Religionsphilosophie und religiöser Dichtung auch weltlicher Dichter, Abraham Ihr Esra Exeget, Philosoph, Mathematiker und Astronom. Moses ben Nachman war Arzt, Commentator des Pentatench und synagvgaler Dichter in kabbalistischen Geiste. Noch vorwiegender als in der jüdisch-spanischen Hochschule zu Cordova beschäftigten sich mit Exegese der heiligen Schriften und Religionsphilosophie die jüdischen Weisen der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt in Palästina, Syrien, Persien, besonders in den babylonisch-jüdischen und dann arabisch-jüdischen Hochschulen von Sura und Pumbedita. Eben so ausschließlich in den Talmud versenkte sich um jene Blüthezeit Israels zu An¬ fang unseres Jahrtausends das französisch-provencalische Judenthum. Raschi wurde die größte Talmudautorität durch seinen Commentar zu demselben, und dieser Commentar des Raschi wurde später nicht weniger als fünfzigmal wie¬ derum commentirt von andern Gelehrten, während sich eine ganze Schule des Raschi, die Tosafisten, damit beschäftigte, die Kommentare ihres Meisters durch Zusätze zu ergänzen. Einer der berühmtesten jüdischen Staatsmänner in fremden Diensten, der Steuerpächter am Hofe Ferdinands und Jsabellas, Don Jsaak Abravenel, widmete seine litterarische Thätigkeit ganz der Erläuterung einiger Bücher der Bibel. Joseph Karo, „das Haupt seines Zeitalters", arbeitete 32 Jahre lang, im 16. Jahrhundert, an einem Commentare zum Ritualcodex des Jakob den Ascher und verfaßte dann einen neuen großen Religionscodex. Seit Abschluß der Bibel ist die geistige Arbeit der jüdischen Weisen haupt¬ sächlich gerichtet gewesen auf Erklärung der Bibel und Dichtung von Gebeten und religiösen Gesängen. In beider Hinsicht ist ein Stoff angehäuft worden, der an Mannigfaltigkeit und Scharfsinn nicht seinesgleichen hat, der aber dennoch in einen so engen Geistesraum eingezwängt ist, daß er für die Nahrung eines mittleren Geistes unserer Zeit nicht genügen würde. Eine haarspaltende Dialektik hat jedes Wort, jede Silbe aus dem Munde Mosis tausendfach und abertausendfach gewogen und geschliffen; hat die weisen Lebensregeln des Gesetzgebers kasuistisch in einen Berg von Münzen ausgeprägt, so daß es kaum mehr möglich ist, die eine von der andern zu unterscheiden, und wenig Sophistik dazu gehört, im gegebenen Falle die eine gegen eine andere auszutauschen. Das religiöse Gefühl wie das sittliche Bewußtsein wurden in unzählige Formeln aufgelöst. Dieser Formalismus brachte es dahin, daß an die Stelle einfachen religiösen Lebens die Beobach¬ tung zahlloser kleiner Vorschriften trat. Es wurde zur Religion, die Reinheit des geschlachteten Stieres von Hunderten kleiner Merkmale abhängig zu machen, die der Schlächter an Lunge, Leber, Haut, Blut des geschlachteten Thieres ent¬ deckte und über deren Bedeutung im Zweifel der Rabbiner und die Weisen urtheilen mußten. An die Stelle einfacher Sittengesetze trat ein unerschöpflicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/266>, abgerufen am 01.01.2025.