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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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in einem Werke, das nichts enthielt, was nicht aus dein streng jüdischen Geiste
geboren war. In Jerusalem und Babylon erstand der Talmud. Die Thora
hatte ihre Erläuterung erfahren durch die Mischn", beide wiederum durch weitere
Erläuterungen, theils in streng exegetischer, theils in umschreibender, ergänzender
Weise. Eine ungeheure Arbeit speculativen Denkens hatte sich in diesen Werken
aufgehäuft. Die jüdischen Hochschulen Asiens hatten Jahrhunderte lang sich
abgemüht, bald an diesem bald an jenem Punkte der Bibel den Gebankenfaden
anzuspinnen und dann denselben fort und fort zu drehen und zu glätten, mit
andern zu verbinden und wieder zu verbinden. Die großen Gelehrten zu Jerusa¬
lem und Sura, zu Alexandrien und Babylon hatten ihr Leben damit zugebracht,
das Größte und das Kleinste in dem heiligen Buche auf das gewöhnliche Leben
logisch zu verwenden. Denn Jahrhunderte lang lebten die Juden, ob in Palästina
oder auswärts, nur nach den Vorschriften ihrer Heimat, und diese Vorschriften
waren sämmtlich enthalten in dem Codex der jüdischen Theokratie, der Bibel,
dem Gesetz. In die Studierstuben dieser Gelehrten und Priester fiel selten ein
Strahl anderer Wissenschaft als der, welche von Moses, den Propheten oder
späteren Gelehrten schon anerkannt worden war. Von Mensch, Pflanze und Thier,
von Erde und Sternen suchten sie nicht die Erkenntniß in der Außenwelt, an
Mensch, Pflanze, Erde, Sterne", soudern in der Erklärung der Stellen der
heiligen Schriften, die davon reden. Es gab für sie keine Wissenschaft außer
in der Religion und keine Religion außer in dem Wissen und Verstehen der
heiligen Bücher.

Es ist merkwürdig, wie gleich geartet der menschliche Geist unter den ver¬
schiedensten Völkern und zu den verschiedensten Zeiten sich zeigt. Als die Juden
in der Wortklauberei und Kasuistik ihrer halachischen und hagadischen Schriften
die lebendige Religion Mosis vergruben, erstarrte Religion und Wissen in ihnen.
Als die Juden im Mittelalter lebhaften Antheil nahmen an der damaligen
Culturarbeit Europas in Spanien, der Provence, in Sizilien, da begann das
Christenthum allmählich in jene selbe scholastische Spemlation zu versinken, aus
welcher der Talmud hervorgegangen war. Und dieselbe Folge trat ein: Religion
und Wissenschaft wurden gleichmäßig zerrieben, zerbröckelt in diesen Schulen,
darin das Naturgesetz wie ein Dogma und das Dogma wie ein Naturgesetz
aussah. Aber die christlichen Völker ernannten sich und belebten ihren Geist,
indem sie diese scholastische Steinklopferei fortwarfen und außerhalb der Kirche
noch an Welt und Menschen zu glauben wagten. Ungefähr um dieselbe Zeit,
wo die christliche Renaissance anfängt, erlitt das Judenthum durch die Vertreibung
aus Spanien einen schweren Schlag. Die arabische Cultur ward in Spanien
zerstört, und mit ihr die jüdische, welche sich an jene lehnte. Und von da ab
ist die Geschichte der Juden in Europa bis auf unsere Zeit nichts gewesen als


in einem Werke, das nichts enthielt, was nicht aus dein streng jüdischen Geiste
geboren war. In Jerusalem und Babylon erstand der Talmud. Die Thora
hatte ihre Erläuterung erfahren durch die Mischn«, beide wiederum durch weitere
Erläuterungen, theils in streng exegetischer, theils in umschreibender, ergänzender
Weise. Eine ungeheure Arbeit speculativen Denkens hatte sich in diesen Werken
aufgehäuft. Die jüdischen Hochschulen Asiens hatten Jahrhunderte lang sich
abgemüht, bald an diesem bald an jenem Punkte der Bibel den Gebankenfaden
anzuspinnen und dann denselben fort und fort zu drehen und zu glätten, mit
andern zu verbinden und wieder zu verbinden. Die großen Gelehrten zu Jerusa¬
lem und Sura, zu Alexandrien und Babylon hatten ihr Leben damit zugebracht,
das Größte und das Kleinste in dem heiligen Buche auf das gewöhnliche Leben
logisch zu verwenden. Denn Jahrhunderte lang lebten die Juden, ob in Palästina
oder auswärts, nur nach den Vorschriften ihrer Heimat, und diese Vorschriften
waren sämmtlich enthalten in dem Codex der jüdischen Theokratie, der Bibel,
dem Gesetz. In die Studierstuben dieser Gelehrten und Priester fiel selten ein
Strahl anderer Wissenschaft als der, welche von Moses, den Propheten oder
späteren Gelehrten schon anerkannt worden war. Von Mensch, Pflanze und Thier,
von Erde und Sternen suchten sie nicht die Erkenntniß in der Außenwelt, an
Mensch, Pflanze, Erde, Sterne», soudern in der Erklärung der Stellen der
heiligen Schriften, die davon reden. Es gab für sie keine Wissenschaft außer
in der Religion und keine Religion außer in dem Wissen und Verstehen der
heiligen Bücher.

Es ist merkwürdig, wie gleich geartet der menschliche Geist unter den ver¬
schiedensten Völkern und zu den verschiedensten Zeiten sich zeigt. Als die Juden
in der Wortklauberei und Kasuistik ihrer halachischen und hagadischen Schriften
die lebendige Religion Mosis vergruben, erstarrte Religion und Wissen in ihnen.
Als die Juden im Mittelalter lebhaften Antheil nahmen an der damaligen
Culturarbeit Europas in Spanien, der Provence, in Sizilien, da begann das
Christenthum allmählich in jene selbe scholastische Spemlation zu versinken, aus
welcher der Talmud hervorgegangen war. Und dieselbe Folge trat ein: Religion
und Wissenschaft wurden gleichmäßig zerrieben, zerbröckelt in diesen Schulen,
darin das Naturgesetz wie ein Dogma und das Dogma wie ein Naturgesetz
aussah. Aber die christlichen Völker ernannten sich und belebten ihren Geist,
indem sie diese scholastische Steinklopferei fortwarfen und außerhalb der Kirche
noch an Welt und Menschen zu glauben wagten. Ungefähr um dieselbe Zeit,
wo die christliche Renaissance anfängt, erlitt das Judenthum durch die Vertreibung
aus Spanien einen schweren Schlag. Die arabische Cultur ward in Spanien
zerstört, und mit ihr die jüdische, welche sich an jene lehnte. Und von da ab
ist die Geschichte der Juden in Europa bis auf unsere Zeit nichts gewesen als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/264>, abgerufen am 28.12.2024.