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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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einer mangelhaften Entwicklung ruhig alle Schädigungen hinnehmen werde,
welche eine festbestimmte greifbare Klasse von Menschen ihm zufügen will, als
es unverständig wäre, von diesen Menschen zu verlangen, daß sie die Schädigung
des Staates unterlassen sollen aus Rücksicht auf sein Unvermögen, sich durch
die ordentlichen Mittel des Gesetzes dagegen zu schützen. Die innere Structur
eines jeden Staates ist nothwendig einem gewissen durchschnittlichen Charakter
seiner Bewohner angepaßt. Wenn durch eine gewaltsame Umwälzung plötzlich
fünf Millionen Spanier in Deutschland oder fünf Millionen Engländer in der
Türkei einheimisch würden, so würde die Gesetzgebung in beiden Ländern leicht
ins Schwanken kommen und von dem gewöhnlichen Wege abzuweichen sich ge¬
nöthigt sehen. Ist die fremde Einwanderung stark genug, um deu Volkscharakter
des Landes zu ändern, so werden sich die Gesetze dieser Aenderung anschließen;
ist sie nicht so stark, so wird sie den Staat zu Ausnahmemaßregeln nöthigen.
Das jüdische Volk ist so durchaus anders geartet als die große Masse der
russischen Unterthanen, daß es uicht Wunder nehmen kann, wenn die Staats¬
regierung zu so auffälligen Auskunftsmittelu ihre Zuflucht nimmt, wie das obige
ist. In einem besser geordneten Staatswesen hätte man wahrscheinlich mit minder
zweischneidigen Waffen sich zu vertheidigen vermocht; in Rußland wußte man
sich nicht anders zu helfen als durch die Berufung an die staatliche Willkür.

Die russische Negierung befindet sich offenbar in einer mißlichen Lage.
Ganz Europa hat noch jüngst in Berlin von Rumänien die Emancipation seiner
Juden heftig gefordert, ehe es Rumänien die staatliche Mündigkeit zuerkennen
wollte. Ich glaube allerdings, daß Rumänien besser als Europa weiß, welche
gewaltige Aufgabe und welche Gefahr es auf sich nehmen wird durch die Ge¬
währung voller Gleichberechtigung an seine jüdischen Einwohner. Aber Rumänien
wird sich fügen müssen auf die Gefahr hin, große wirthschaftliche und nationale
Erschütterungen zu erleben. Das daraus entspringende Unheil wäre für das
fordernde Europa kein sehr großes. Rußland jedoch wird man schwerlich dazu
bewegen, eine solche Gefahr selbst in kleinerem Maßstabe auf sich zu nehmen;
diesen Entschluß könnte Rußland nur aus freiem Willen, aus einer sehr libe¬
ralen und sehr doctrinären Strömung seines Staatslebens etwa fassen. Eine
durchgreifende Lösung der Frage N aber nur hier in Rußland möglich, wo der
Hauptsitz des Judenthums sich befindet.

Wollte man in Rußland das Judenthum gewaltsam niederdrücken, so würde
man damit nur einen oft unternommenen Versuch wiederholen, dessen Vergeblich¬
keit eben so oft in der Geschichte nachgewiesen wurde. Wollte man den Weg der
jüdisch-liberalen Doktrin betreten, so ist anzunehmen, daß in nicht allzulanger
Frist der größte Theil der wirthschaftlichen Zustände Rußlands sich völlig ändern,
das städtische Wesen des Reiches vorwiegend jüdisch werden, die ohnehin schad-


einer mangelhaften Entwicklung ruhig alle Schädigungen hinnehmen werde,
welche eine festbestimmte greifbare Klasse von Menschen ihm zufügen will, als
es unverständig wäre, von diesen Menschen zu verlangen, daß sie die Schädigung
des Staates unterlassen sollen aus Rücksicht auf sein Unvermögen, sich durch
die ordentlichen Mittel des Gesetzes dagegen zu schützen. Die innere Structur
eines jeden Staates ist nothwendig einem gewissen durchschnittlichen Charakter
seiner Bewohner angepaßt. Wenn durch eine gewaltsame Umwälzung plötzlich
fünf Millionen Spanier in Deutschland oder fünf Millionen Engländer in der
Türkei einheimisch würden, so würde die Gesetzgebung in beiden Ländern leicht
ins Schwanken kommen und von dem gewöhnlichen Wege abzuweichen sich ge¬
nöthigt sehen. Ist die fremde Einwanderung stark genug, um deu Volkscharakter
des Landes zu ändern, so werden sich die Gesetze dieser Aenderung anschließen;
ist sie nicht so stark, so wird sie den Staat zu Ausnahmemaßregeln nöthigen.
Das jüdische Volk ist so durchaus anders geartet als die große Masse der
russischen Unterthanen, daß es uicht Wunder nehmen kann, wenn die Staats¬
regierung zu so auffälligen Auskunftsmittelu ihre Zuflucht nimmt, wie das obige
ist. In einem besser geordneten Staatswesen hätte man wahrscheinlich mit minder
zweischneidigen Waffen sich zu vertheidigen vermocht; in Rußland wußte man
sich nicht anders zu helfen als durch die Berufung an die staatliche Willkür.

Die russische Negierung befindet sich offenbar in einer mißlichen Lage.
Ganz Europa hat noch jüngst in Berlin von Rumänien die Emancipation seiner
Juden heftig gefordert, ehe es Rumänien die staatliche Mündigkeit zuerkennen
wollte. Ich glaube allerdings, daß Rumänien besser als Europa weiß, welche
gewaltige Aufgabe und welche Gefahr es auf sich nehmen wird durch die Ge¬
währung voller Gleichberechtigung an seine jüdischen Einwohner. Aber Rumänien
wird sich fügen müssen auf die Gefahr hin, große wirthschaftliche und nationale
Erschütterungen zu erleben. Das daraus entspringende Unheil wäre für das
fordernde Europa kein sehr großes. Rußland jedoch wird man schwerlich dazu
bewegen, eine solche Gefahr selbst in kleinerem Maßstabe auf sich zu nehmen;
diesen Entschluß könnte Rußland nur aus freiem Willen, aus einer sehr libe¬
ralen und sehr doctrinären Strömung seines Staatslebens etwa fassen. Eine
durchgreifende Lösung der Frage N aber nur hier in Rußland möglich, wo der
Hauptsitz des Judenthums sich befindet.

Wollte man in Rußland das Judenthum gewaltsam niederdrücken, so würde
man damit nur einen oft unternommenen Versuch wiederholen, dessen Vergeblich¬
keit eben so oft in der Geschichte nachgewiesen wurde. Wollte man den Weg der
jüdisch-liberalen Doktrin betreten, so ist anzunehmen, daß in nicht allzulanger
Frist der größte Theil der wirthschaftlichen Zustände Rußlands sich völlig ändern,
das städtische Wesen des Reiches vorwiegend jüdisch werden, die ohnehin schad-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/229>, abgerufen am 28.12.2024.