Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Presse seines engeren Vaterlandes gethan, so auch an dieser Stelle vor einem
über ganz Deutschland ausgebreiteten, urtheilsfähigem und Vorurtheilsfreien Leser¬
kreise die Gymnasien in Schutz zu nehmen sucht gegen einen Angriff, dessen
siegreiche Durchführung, seiner festen und innigsten Ueberzeugung nach, eine
schwere Schädigung der geistigen und sittlichen Interessen unserer Nation herbei¬
führen müßte, einen Angriff, der in seinen letzten Consequenzen darauf hinaus¬
laufen würde, ein Geschlecht heranzuziehen, das, in geistiger Verzärtelung auf¬
gewachsen und in egoistischer Verweichlichung bestärkt, den großen Ausgaben des
Lebens nicht gewachsen sein würde. Gern will er dabei aussprechen, daß er
nicht daran zweifelt, daß die Bestrebungen des Herrn Dr. Hasse aus einem
warmen Interesse an dem Wohlergehen der Menschheit hervorfließen. Aber
nicht alles, was gut gemeint ist, führt zu einem guten Ziele, und nur zu oft
schon hat ein edler Eifer Wunden geschlagen, die nachher auch der beste Wille
zu heilen nicht im Stande gewesen ist.

Fragen wir zunächst, worauf Dr. Hasse seine Anklage gegen die Gymnasien
basirt, so ist es die Thatsache, daß ihm in einem Zeitraume von etwa einem
Jahre 6 bis 7 Gymnasiasten von 15 bis 20 Jahren zur irrenärztlichen Be¬
handlung übergeben worden sind. Wenn derselbe nun aus dieser Thatsache
auf eine erschreckende Ueberhandnahme von Nervosität und geistiger Ueberreizung
in den Kreisen der deutschen Gymnasialjugend überhaupt schließt, so möchte ein
solcher Schluß doch etwas voreilig sein, und höchstens so viel ließe sich folgern,
daß auf denjenigen Gymnasien, denen die betreffenden angehörten -- und das
scheinen nach einer Andeutung jenes Artikels in der "Gegenwart" vorwiegend
die des Herzogthums Braunschweigs zu sein -- nicht alles in Ordnung ist.
Eine Ausdehnung der Anklage auf weitere Kreise würde offenbar erst dann be¬
rechtigt sein, wenn nachgewiesen würde, daß nicht bloß in Königslutter, sondern
auch in der Mehrzahl der übrigen Irrenanstalten Deutschlands ähnliche Erfah¬
rungen gemacht worden sind. Dieser Nachweis ist aber bisher noch keineswegs
erbracht worden. Die Häufung der Erkrankungsfälle in Königslutter ist bis
jetzt noch eine vereinzelte und noch dazu auf sehr kurzer Beobachtungszeit basi-
rende Erscheinung.

Dr. Hasse ist nun keinen Augenblick im Zweifel, daß in den in Frage
stehenden Fällen "die anhaltenden geistigen Strapazen, welche einem in der Ent¬
wicklung begriffenen Gehirn durch übermäßige Anforderungen in der Schule
zugemuthet werden, auf die Entstehung der geistigen Erkrankung einen entschei¬
denden Einfluß gehabt haben." (Augsb. Allg. Ztg. vom 7. August 1880.) Und
in dem Aufsatze in der "Gegenwart" spricht er sich unumwunden dahin aus,
"daß in stets steigender Proportion sich die Fälle gemehrt haben, in welchen
Ueberbürdung mit Schularbeiten bei Mangel an entsprechender körperlicher Be-


Grenzboten IV. 1380. 3

Presse seines engeren Vaterlandes gethan, so auch an dieser Stelle vor einem
über ganz Deutschland ausgebreiteten, urtheilsfähigem und Vorurtheilsfreien Leser¬
kreise die Gymnasien in Schutz zu nehmen sucht gegen einen Angriff, dessen
siegreiche Durchführung, seiner festen und innigsten Ueberzeugung nach, eine
schwere Schädigung der geistigen und sittlichen Interessen unserer Nation herbei¬
führen müßte, einen Angriff, der in seinen letzten Consequenzen darauf hinaus¬
laufen würde, ein Geschlecht heranzuziehen, das, in geistiger Verzärtelung auf¬
gewachsen und in egoistischer Verweichlichung bestärkt, den großen Ausgaben des
Lebens nicht gewachsen sein würde. Gern will er dabei aussprechen, daß er
nicht daran zweifelt, daß die Bestrebungen des Herrn Dr. Hasse aus einem
warmen Interesse an dem Wohlergehen der Menschheit hervorfließen. Aber
nicht alles, was gut gemeint ist, führt zu einem guten Ziele, und nur zu oft
schon hat ein edler Eifer Wunden geschlagen, die nachher auch der beste Wille
zu heilen nicht im Stande gewesen ist.

Fragen wir zunächst, worauf Dr. Hasse seine Anklage gegen die Gymnasien
basirt, so ist es die Thatsache, daß ihm in einem Zeitraume von etwa einem
Jahre 6 bis 7 Gymnasiasten von 15 bis 20 Jahren zur irrenärztlichen Be¬
handlung übergeben worden sind. Wenn derselbe nun aus dieser Thatsache
auf eine erschreckende Ueberhandnahme von Nervosität und geistiger Ueberreizung
in den Kreisen der deutschen Gymnasialjugend überhaupt schließt, so möchte ein
solcher Schluß doch etwas voreilig sein, und höchstens so viel ließe sich folgern,
daß auf denjenigen Gymnasien, denen die betreffenden angehörten — und das
scheinen nach einer Andeutung jenes Artikels in der „Gegenwart" vorwiegend
die des Herzogthums Braunschweigs zu sein — nicht alles in Ordnung ist.
Eine Ausdehnung der Anklage auf weitere Kreise würde offenbar erst dann be¬
rechtigt sein, wenn nachgewiesen würde, daß nicht bloß in Königslutter, sondern
auch in der Mehrzahl der übrigen Irrenanstalten Deutschlands ähnliche Erfah¬
rungen gemacht worden sind. Dieser Nachweis ist aber bisher noch keineswegs
erbracht worden. Die Häufung der Erkrankungsfälle in Königslutter ist bis
jetzt noch eine vereinzelte und noch dazu auf sehr kurzer Beobachtungszeit basi-
rende Erscheinung.

Dr. Hasse ist nun keinen Augenblick im Zweifel, daß in den in Frage
stehenden Fällen „die anhaltenden geistigen Strapazen, welche einem in der Ent¬
wicklung begriffenen Gehirn durch übermäßige Anforderungen in der Schule
zugemuthet werden, auf die Entstehung der geistigen Erkrankung einen entschei¬
denden Einfluß gehabt haben." (Augsb. Allg. Ztg. vom 7. August 1880.) Und
in dem Aufsatze in der „Gegenwart" spricht er sich unumwunden dahin aus,
„daß in stets steigender Proportion sich die Fälle gemehrt haben, in welchen
Ueberbürdung mit Schularbeiten bei Mangel an entsprechender körperlicher Be-


Grenzboten IV. 1380. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147668"/>
          <p xml:id="ID_50" prev="#ID_49"> Presse seines engeren Vaterlandes gethan, so auch an dieser Stelle vor einem<lb/>
über ganz Deutschland ausgebreiteten, urtheilsfähigem und Vorurtheilsfreien Leser¬<lb/>
kreise die Gymnasien in Schutz zu nehmen sucht gegen einen Angriff, dessen<lb/>
siegreiche Durchführung, seiner festen und innigsten Ueberzeugung nach, eine<lb/>
schwere Schädigung der geistigen und sittlichen Interessen unserer Nation herbei¬<lb/>
führen müßte, einen Angriff, der in seinen letzten Consequenzen darauf hinaus¬<lb/>
laufen würde, ein Geschlecht heranzuziehen, das, in geistiger Verzärtelung auf¬<lb/>
gewachsen und in egoistischer Verweichlichung bestärkt, den großen Ausgaben des<lb/>
Lebens nicht gewachsen sein würde. Gern will er dabei aussprechen, daß er<lb/>
nicht daran zweifelt, daß die Bestrebungen des Herrn Dr. Hasse aus einem<lb/>
warmen Interesse an dem Wohlergehen der Menschheit hervorfließen. Aber<lb/>
nicht alles, was gut gemeint ist, führt zu einem guten Ziele, und nur zu oft<lb/>
schon hat ein edler Eifer Wunden geschlagen, die nachher auch der beste Wille<lb/>
zu heilen nicht im Stande gewesen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_51"> Fragen wir zunächst, worauf Dr. Hasse seine Anklage gegen die Gymnasien<lb/>
basirt, so ist es die Thatsache, daß ihm in einem Zeitraume von etwa einem<lb/>
Jahre 6 bis 7 Gymnasiasten von 15 bis 20 Jahren zur irrenärztlichen Be¬<lb/>
handlung übergeben worden sind. Wenn derselbe nun aus dieser Thatsache<lb/>
auf eine erschreckende Ueberhandnahme von Nervosität und geistiger Ueberreizung<lb/>
in den Kreisen der deutschen Gymnasialjugend überhaupt schließt, so möchte ein<lb/>
solcher Schluß doch etwas voreilig sein, und höchstens so viel ließe sich folgern,<lb/>
daß auf denjenigen Gymnasien, denen die betreffenden angehörten &#x2014; und das<lb/>
scheinen nach einer Andeutung jenes Artikels in der &#x201E;Gegenwart" vorwiegend<lb/>
die des Herzogthums Braunschweigs zu sein &#x2014; nicht alles in Ordnung ist.<lb/>
Eine Ausdehnung der Anklage auf weitere Kreise würde offenbar erst dann be¬<lb/>
rechtigt sein, wenn nachgewiesen würde, daß nicht bloß in Königslutter, sondern<lb/>
auch in der Mehrzahl der übrigen Irrenanstalten Deutschlands ähnliche Erfah¬<lb/>
rungen gemacht worden sind. Dieser Nachweis ist aber bisher noch keineswegs<lb/>
erbracht worden. Die Häufung der Erkrankungsfälle in Königslutter ist bis<lb/>
jetzt noch eine vereinzelte und noch dazu auf sehr kurzer Beobachtungszeit basi-<lb/>
rende Erscheinung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_52" next="#ID_53"> Dr. Hasse ist nun keinen Augenblick im Zweifel, daß in den in Frage<lb/>
stehenden Fällen &#x201E;die anhaltenden geistigen Strapazen, welche einem in der Ent¬<lb/>
wicklung begriffenen Gehirn durch übermäßige Anforderungen in der Schule<lb/>
zugemuthet werden, auf die Entstehung der geistigen Erkrankung einen entschei¬<lb/>
denden Einfluß gehabt haben." (Augsb. Allg. Ztg. vom 7. August 1880.) Und<lb/>
in dem Aufsatze in der &#x201E;Gegenwart" spricht er sich unumwunden dahin aus,<lb/>
&#x201E;daß in stets steigender Proportion sich die Fälle gemehrt haben, in welchen<lb/>
Ueberbürdung mit Schularbeiten bei Mangel an entsprechender körperlicher Be-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1380. 3</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0021] Presse seines engeren Vaterlandes gethan, so auch an dieser Stelle vor einem über ganz Deutschland ausgebreiteten, urtheilsfähigem und Vorurtheilsfreien Leser¬ kreise die Gymnasien in Schutz zu nehmen sucht gegen einen Angriff, dessen siegreiche Durchführung, seiner festen und innigsten Ueberzeugung nach, eine schwere Schädigung der geistigen und sittlichen Interessen unserer Nation herbei¬ führen müßte, einen Angriff, der in seinen letzten Consequenzen darauf hinaus¬ laufen würde, ein Geschlecht heranzuziehen, das, in geistiger Verzärtelung auf¬ gewachsen und in egoistischer Verweichlichung bestärkt, den großen Ausgaben des Lebens nicht gewachsen sein würde. Gern will er dabei aussprechen, daß er nicht daran zweifelt, daß die Bestrebungen des Herrn Dr. Hasse aus einem warmen Interesse an dem Wohlergehen der Menschheit hervorfließen. Aber nicht alles, was gut gemeint ist, führt zu einem guten Ziele, und nur zu oft schon hat ein edler Eifer Wunden geschlagen, die nachher auch der beste Wille zu heilen nicht im Stande gewesen ist. Fragen wir zunächst, worauf Dr. Hasse seine Anklage gegen die Gymnasien basirt, so ist es die Thatsache, daß ihm in einem Zeitraume von etwa einem Jahre 6 bis 7 Gymnasiasten von 15 bis 20 Jahren zur irrenärztlichen Be¬ handlung übergeben worden sind. Wenn derselbe nun aus dieser Thatsache auf eine erschreckende Ueberhandnahme von Nervosität und geistiger Ueberreizung in den Kreisen der deutschen Gymnasialjugend überhaupt schließt, so möchte ein solcher Schluß doch etwas voreilig sein, und höchstens so viel ließe sich folgern, daß auf denjenigen Gymnasien, denen die betreffenden angehörten — und das scheinen nach einer Andeutung jenes Artikels in der „Gegenwart" vorwiegend die des Herzogthums Braunschweigs zu sein — nicht alles in Ordnung ist. Eine Ausdehnung der Anklage auf weitere Kreise würde offenbar erst dann be¬ rechtigt sein, wenn nachgewiesen würde, daß nicht bloß in Königslutter, sondern auch in der Mehrzahl der übrigen Irrenanstalten Deutschlands ähnliche Erfah¬ rungen gemacht worden sind. Dieser Nachweis ist aber bisher noch keineswegs erbracht worden. Die Häufung der Erkrankungsfälle in Königslutter ist bis jetzt noch eine vereinzelte und noch dazu auf sehr kurzer Beobachtungszeit basi- rende Erscheinung. Dr. Hasse ist nun keinen Augenblick im Zweifel, daß in den in Frage stehenden Fällen „die anhaltenden geistigen Strapazen, welche einem in der Ent¬ wicklung begriffenen Gehirn durch übermäßige Anforderungen in der Schule zugemuthet werden, auf die Entstehung der geistigen Erkrankung einen entschei¬ denden Einfluß gehabt haben." (Augsb. Allg. Ztg. vom 7. August 1880.) Und in dem Aufsatze in der „Gegenwart" spricht er sich unumwunden dahin aus, „daß in stets steigender Proportion sich die Fälle gemehrt haben, in welchen Ueberbürdung mit Schularbeiten bei Mangel an entsprechender körperlicher Be- Grenzboten IV. 1380. 3

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/21
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/21>, abgerufen am 28.12.2024.