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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Wesen des strengen Eides entbehren könne. Da würde denn zunächst zu
fragen sein: Leistet der Eid, wie er jetzt von den Gerichten und sonst im öffent¬
lichen Leben gehandhabt wird, wirklich das, was sein Zweck ist und allein sein
kann? bewirkt er, daß mehr Wahrhaftigkeit und Treue in unser öffentliches und
Rechtsleben hinein kommt, als ohne den Eid unter uns zu finden sein würde?
Und weiter: Würde sich diese selbe Wirkung nicht auch auf andere Weise und
auf diese andere mit der gleichen Vollkommenheit, wenn nicht gnr noch vollkommener
und besser erreichen lassen? Daß an diesen beiden Fragen die Entscheidung
häugt, sieht jeder leicht, und wie stellt sich nun da die Sache?

Freilich ist es nicht möglich, genaue statistische Aufnahmen über den praktischen
Nutzen des Eides zu veranstalten, weil sich die Wirkungen des Eides in das
Innere des Menschen, also in ein uncontrollierbares Gebiet zurückziehen. Aber
zunächst steht doch so viel fest, daß leichtfertige Behandlung des Eides von
Seiten der Schwörenden viel häufiger ist und daß auf die überhaupt ge-
schworenen Eide ein viel größerer Procentsatz von Meineiden kommt, als ge¬
schehen dürfte, wenn der Eid wirklich ein besonders wirksames Mittel wäre,
um die Wahrheit an den Tag zu bringen und an Pflichten zu binden. Meineids-
prvcesse gehören zu den gewöhnlichen Vorkommnissen vor unsern Gerichten,
und wie viele Verletzungen des Eides mag es geben, die nicht zur Verhandlung
und Aburtheilung gelaugen, weil sie sich der Kenntnißnahme des Staatsanwaltes
entziehen! Dazu kommt aber noch, daß da, wo der geschworne Eid auch ehrlich
gehalten wird, dieselbe Wirkung in der überwiegenden Mehrzahl von Fällen auch
ohne Eid auf ein bloßes ernstlich und feierlich gegebenes Wort, etwa auf einen
Handschlag hin erfolgt sein würde. Die Zahl der Fälle, wo man sagen müßte,
es ist der Eid als solcher gewesen, auch abgesehen von ihrer persönlichen Ehren¬
haftigkeit oder auch von der Furcht vor Bestrafung, wodurch die Mettscheu sich
in ihrem Gewissen gebunden gefühlt haben, Treue und Glauben zu halten, ist
ohne Zweifel verschwindend klein, und jedenfalls wird man behaupten dürfen,
in der Regel verhält es sich so, daß ehrliche Leute, wenn von ihnen die Wahrheit
gefordert wird, dieselbe auch ohne Eid sagen, ebenso ohne Eid einer einmal
gethanen Zusage gewissenhaft nachkommen werden, daß aber da, wo überhaupt
keine Gewissenhaftigkeit vorhanden ist, also bei innerlich verwahrlosten, leicht¬
sinnigen oder von schlimmen Leidenschaften beherrschten Gemüthern es auch nicht
hilft, sie in ihr Gewissen zu verweisen; sie werden ihren Eid brechen, mag der¬
selbe noch so feierlich geschworen sein, wenn nicht etwa die Furcht vor Bestrafung
von Seiten der Obrigkeit, die dem Meineidigen angedroht ist -- also eigentlich
doch nicht der Eid - , sie davon abhalten wird. Eben dies letztere ist auch
mit in Anschlag zu bringen, wenn gefragt wird, wie viele Menschen, die einen
Eid leisten, lassen sich dnrch die religiöse Seite des Eides bewegen, demselben


Wesen des strengen Eides entbehren könne. Da würde denn zunächst zu
fragen sein: Leistet der Eid, wie er jetzt von den Gerichten und sonst im öffent¬
lichen Leben gehandhabt wird, wirklich das, was sein Zweck ist und allein sein
kann? bewirkt er, daß mehr Wahrhaftigkeit und Treue in unser öffentliches und
Rechtsleben hinein kommt, als ohne den Eid unter uns zu finden sein würde?
Und weiter: Würde sich diese selbe Wirkung nicht auch auf andere Weise und
auf diese andere mit der gleichen Vollkommenheit, wenn nicht gnr noch vollkommener
und besser erreichen lassen? Daß an diesen beiden Fragen die Entscheidung
häugt, sieht jeder leicht, und wie stellt sich nun da die Sache?

Freilich ist es nicht möglich, genaue statistische Aufnahmen über den praktischen
Nutzen des Eides zu veranstalten, weil sich die Wirkungen des Eides in das
Innere des Menschen, also in ein uncontrollierbares Gebiet zurückziehen. Aber
zunächst steht doch so viel fest, daß leichtfertige Behandlung des Eides von
Seiten der Schwörenden viel häufiger ist und daß auf die überhaupt ge-
schworenen Eide ein viel größerer Procentsatz von Meineiden kommt, als ge¬
schehen dürfte, wenn der Eid wirklich ein besonders wirksames Mittel wäre,
um die Wahrheit an den Tag zu bringen und an Pflichten zu binden. Meineids-
prvcesse gehören zu den gewöhnlichen Vorkommnissen vor unsern Gerichten,
und wie viele Verletzungen des Eides mag es geben, die nicht zur Verhandlung
und Aburtheilung gelaugen, weil sie sich der Kenntnißnahme des Staatsanwaltes
entziehen! Dazu kommt aber noch, daß da, wo der geschworne Eid auch ehrlich
gehalten wird, dieselbe Wirkung in der überwiegenden Mehrzahl von Fällen auch
ohne Eid auf ein bloßes ernstlich und feierlich gegebenes Wort, etwa auf einen
Handschlag hin erfolgt sein würde. Die Zahl der Fälle, wo man sagen müßte,
es ist der Eid als solcher gewesen, auch abgesehen von ihrer persönlichen Ehren¬
haftigkeit oder auch von der Furcht vor Bestrafung, wodurch die Mettscheu sich
in ihrem Gewissen gebunden gefühlt haben, Treue und Glauben zu halten, ist
ohne Zweifel verschwindend klein, und jedenfalls wird man behaupten dürfen,
in der Regel verhält es sich so, daß ehrliche Leute, wenn von ihnen die Wahrheit
gefordert wird, dieselbe auch ohne Eid sagen, ebenso ohne Eid einer einmal
gethanen Zusage gewissenhaft nachkommen werden, daß aber da, wo überhaupt
keine Gewissenhaftigkeit vorhanden ist, also bei innerlich verwahrlosten, leicht¬
sinnigen oder von schlimmen Leidenschaften beherrschten Gemüthern es auch nicht
hilft, sie in ihr Gewissen zu verweisen; sie werden ihren Eid brechen, mag der¬
selbe noch so feierlich geschworen sein, wenn nicht etwa die Furcht vor Bestrafung
von Seiten der Obrigkeit, die dem Meineidigen angedroht ist — also eigentlich
doch nicht der Eid - , sie davon abhalten wird. Eben dies letztere ist auch
mit in Anschlag zu bringen, wenn gefragt wird, wie viele Menschen, die einen
Eid leisten, lassen sich dnrch die religiöse Seite des Eides bewegen, demselben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/114>, abgerufen am 28.12.2024.