Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.Aber dieses Entwicklungsstadium, das wir als Anschauung der Natur in ihrer Aber dieses Entwicklungsstadium, das wir als Anschauung der Natur in ihrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147611"/> <p xml:id="ID_1432" prev="#ID_1431" next="#ID_1433"> Aber dieses Entwicklungsstadium, das wir als Anschauung der Natur in ihrer<lb/> unmittelbaren Einheit mit dem Geiste bezeichnen dürfen, ist überschritten. Das<lb/> Christenthum hat diese Harmonie aufgehoben, hat den Geist zum Bewußtsein<lb/> seiner Freiheit gegeuüber der Natur geführt, hat ihn in Gegensatz, ja Dishar¬<lb/> monie mit derselben gebracht, damit sie, von ihm unterworfen und angeeignet,<lb/> zu einem vollkommenen Einklang mit ihm komme. Und so ist jetzt die Aufgabe<lb/> der Kunst, nicht den Frieden vor dem Kampfe, sondern den Frieden als Er¬<lb/> gebniß des Kampfes darzustellen und so eine Prophetin der Vollendung zu<lb/> werden. Es hängt damit zusammen, daß in der Sphäre der bildenden Künste<lb/> die Malerei uns sympathischer ist als die Sculptur. Denn die Sculptur ist<lb/> die Kunst, welche vor allem die Herrlichkeit des sinnlich-natürlichen Daseins<lb/> feiert, während die Malerei die Kunst der Geschichte ist und die Subjectivität, ihre<lb/> sinnliche Selbstdarstellung, zum Inhalte hat. Es gilt dies mich von der Land¬<lb/> schaftsmalerei. Die ganze antike Landschaftsmalerei läßt uns völlig kalt, und<lb/> was in der modernen Landschaftsmalerei uns anzieht und unser Gemüth be¬<lb/> wegt, was ist es anders als die Versenkung des Subjects in dieselbe, als die<lb/> Durchdringung der Landschaft mit „dem ahnungsvollen Dämmerschein des Geistes"?<lb/> (K. Woermann in seiner geistvollen Schrift: Die Landschaft in der Kunst der<lb/> alten Völker). Damit hängt es auch zusammen, daß die Sculptur der Gegen¬<lb/> wart einen historischen Charakter trägt, daß sie nicht sowohl das Ideal der<lb/> Schönheit, als die ideale Gestaltung einer geschichtlichen Persönlichkeit zu ihrem<lb/> Gegenstände wählt. Und wenn unsere Zeit tiefer ergriffen wird von der Poesie<lb/> und Musik als von den bildenden Künsten, so ist dies nur die Folge davon,<lb/> daß jene den Wechsel der Affecte, die leisesten Bewegungen des Gemüthslebens,<lb/> der subjectiven Innerlichkeit darzustellen vermögen, was diesen versagt ist. Blicken<lb/> wir aber auch auf den Inhalt der Poesie. Die Classiker der Antike, Homer<lb/> und Sophokles, werden nie aufhören, Musterbilder poetischer Darstellung zu<lb/> sein, zu denen wir aufschauen, werden nie aufhören, eine Fülle reinen und<lb/> tiefen Genusses uns zu vermitteln, aber Interpreten unseres innersten Denkens<lb/> und Empfindens, Strebens und Wollens find sie nicht. Ihre Welt und die<lb/> unsere sind einander fremd, und nnr vereinzelt begegnen wir Gestalten, die,<lb/> wie Antigone, mit verwandten Tönen uns begrüßen. Und worin liegt dieser<lb/> Gegensatz? Die Beantwortung dieser Frage schließt zugleich die Lösung eines<lb/> anderen Problems in sich: Worin haben wir die Differenz zwischen der antiken<lb/> und christlichen Philosophie zu suchen? Mariano hat diesen Gegenstand nur<lb/> leicht gestreift, und wir vermissen hier eine präzise Bestimmung. Die antike<lb/> Weltanschauung, wie sie sich in Philosophie und Poesie darstellt, liegt in den<lb/> Banden der Natur und der Nothwendigkeit; die christliche Weltanschauung, wie<lb/> Poesie und Philosophie sie aussprechen, bewegt sich in der Sphäre der Freiheit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0517]
Aber dieses Entwicklungsstadium, das wir als Anschauung der Natur in ihrer
unmittelbaren Einheit mit dem Geiste bezeichnen dürfen, ist überschritten. Das
Christenthum hat diese Harmonie aufgehoben, hat den Geist zum Bewußtsein
seiner Freiheit gegeuüber der Natur geführt, hat ihn in Gegensatz, ja Dishar¬
monie mit derselben gebracht, damit sie, von ihm unterworfen und angeeignet,
zu einem vollkommenen Einklang mit ihm komme. Und so ist jetzt die Aufgabe
der Kunst, nicht den Frieden vor dem Kampfe, sondern den Frieden als Er¬
gebniß des Kampfes darzustellen und so eine Prophetin der Vollendung zu
werden. Es hängt damit zusammen, daß in der Sphäre der bildenden Künste
die Malerei uns sympathischer ist als die Sculptur. Denn die Sculptur ist
die Kunst, welche vor allem die Herrlichkeit des sinnlich-natürlichen Daseins
feiert, während die Malerei die Kunst der Geschichte ist und die Subjectivität, ihre
sinnliche Selbstdarstellung, zum Inhalte hat. Es gilt dies mich von der Land¬
schaftsmalerei. Die ganze antike Landschaftsmalerei läßt uns völlig kalt, und
was in der modernen Landschaftsmalerei uns anzieht und unser Gemüth be¬
wegt, was ist es anders als die Versenkung des Subjects in dieselbe, als die
Durchdringung der Landschaft mit „dem ahnungsvollen Dämmerschein des Geistes"?
(K. Woermann in seiner geistvollen Schrift: Die Landschaft in der Kunst der
alten Völker). Damit hängt es auch zusammen, daß die Sculptur der Gegen¬
wart einen historischen Charakter trägt, daß sie nicht sowohl das Ideal der
Schönheit, als die ideale Gestaltung einer geschichtlichen Persönlichkeit zu ihrem
Gegenstände wählt. Und wenn unsere Zeit tiefer ergriffen wird von der Poesie
und Musik als von den bildenden Künsten, so ist dies nur die Folge davon,
daß jene den Wechsel der Affecte, die leisesten Bewegungen des Gemüthslebens,
der subjectiven Innerlichkeit darzustellen vermögen, was diesen versagt ist. Blicken
wir aber auch auf den Inhalt der Poesie. Die Classiker der Antike, Homer
und Sophokles, werden nie aufhören, Musterbilder poetischer Darstellung zu
sein, zu denen wir aufschauen, werden nie aufhören, eine Fülle reinen und
tiefen Genusses uns zu vermitteln, aber Interpreten unseres innersten Denkens
und Empfindens, Strebens und Wollens find sie nicht. Ihre Welt und die
unsere sind einander fremd, und nnr vereinzelt begegnen wir Gestalten, die,
wie Antigone, mit verwandten Tönen uns begrüßen. Und worin liegt dieser
Gegensatz? Die Beantwortung dieser Frage schließt zugleich die Lösung eines
anderen Problems in sich: Worin haben wir die Differenz zwischen der antiken
und christlichen Philosophie zu suchen? Mariano hat diesen Gegenstand nur
leicht gestreift, und wir vermissen hier eine präzise Bestimmung. Die antike
Weltanschauung, wie sie sich in Philosophie und Poesie darstellt, liegt in den
Banden der Natur und der Nothwendigkeit; die christliche Weltanschauung, wie
Poesie und Philosophie sie aussprechen, bewegt sich in der Sphäre der Freiheit
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