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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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frühes Liebesleben zwischen der schlanken, feinen Schulmeisterstochter Anna und
der trotzig sinnlichen Judith geschildert; die Idylle der verschiedenen Aufenthalte
Heinrich Lech auf dein Gute seines Oheims, in der romantischen Umgebung
erreicht das Höchste, was der Dichter überhaupt zu geben vermag. Nicht nur
Gestalten werden hier vor uns lebendig, nicht nur blicken wir tief in die Seele
des Helden und aller der Menschen hinab, mit denen er in diesen fast traum¬
haften und doch so lebensvollen Zuständen in Berührung kommt, nicht nur
tritt die Scenerie der Handlung in Heller Beleuchtung und kräftigen Farben
vor uns, sondern es erfolgt jenes wunderbare Zusammenschmelzen der Stim¬
mung in Natur und Leben, welches uns in aller Einfachheit immer wie die
Enthüllung innerster Geheimnisse berührt. Wir athmen mit dem Dichter den
Hauch des thaufrischen Morgens, des sonnenheißen Waldes, wir durchleben den
Phantastisch eindrucksvoller Wechsel der wunderlichen Begegnungen, die dem
jungen Heinrich Lee zu Theil werden, und die Entfaltung einer Jugendliebe,
deren Leid und Seligkeit sich nnter dem Andrange des Alltags und unter den
Augen der Alltäglichen wie eine fremde Blüthe entfalten muß, die für ein hei¬
misches Kraut genommen wird. Die Poesie, welche der Dichter in das Ge¬
meinste und Unscheinbarste zu legen weiß, die Innigkeit, mit der er sich dem
Detail seiner Geschichte hingiebt und doch kaum ein und das andere Mal im
vorwärtsdrängenden Zug der Erzählung nachläßt, fordern zu den stärksten Ver¬
gleichen heraus, und doch sind alle Vergleiche falsch: Gottfried Keller ist und
bleibt er selbst, und die Sicherheit, mit der er die Elemente seines Romans
mischt und beherrscht, erwächst nur aus dem Boden seiner persönlichsten Ein¬
drücke. Mit aller mannigfaltigen Erfindungskraft, aller Objektivität, die den
Dichter auszeichnen, verleugnet er den subjectiven Kern seiner ursprünglichen
Anlage so wenig, als den heimatlichen Zug, der durch den "Grünen Heinrich"
wie durch die späteren Dichtungen Kellers hindurchgeht.

Es ist natürlich mehr heimatlicher Zug, Eindruck und Einfluß der Um¬
gebungen, als ein Mangel der poetischen Natur, wenn die Vorstellungsweise
Kellers hier und da ein Element ungelöster Prosa und eine moralisch prosaische
Betrachtung, die nicht subjectiv und wirkliches Eigenthum des Dichters geworden
ist, aufweist. Der Poet, dem das tiefste Empfindungsleben erschlossen ist, dessen
Gestalten meist von echtem Herzschläge und von gutem Blute sind, nimmt ge¬
legentlich ein paar Situationen und ein paar Figuren auf, welche nur äußer¬
lich eine Lücke füllen helfen und eine gewisse Nüchternheit nicht einmal mit
dem Zaubermittel bewältigen, welches ihm sonst im reichsten Maße zu Gebot
steht. Denn der eigentliche Fluß des Romans in allen Theilen, wo sich der
Dichter nicht dramatisch darstellend und in breiterer Detaillirung ergeht (was
freilich bei den vorzüglichsten Partien des "Grünen Heinrich" überall der Fall


frühes Liebesleben zwischen der schlanken, feinen Schulmeisterstochter Anna und
der trotzig sinnlichen Judith geschildert; die Idylle der verschiedenen Aufenthalte
Heinrich Lech auf dein Gute seines Oheims, in der romantischen Umgebung
erreicht das Höchste, was der Dichter überhaupt zu geben vermag. Nicht nur
Gestalten werden hier vor uns lebendig, nicht nur blicken wir tief in die Seele
des Helden und aller der Menschen hinab, mit denen er in diesen fast traum¬
haften und doch so lebensvollen Zuständen in Berührung kommt, nicht nur
tritt die Scenerie der Handlung in Heller Beleuchtung und kräftigen Farben
vor uns, sondern es erfolgt jenes wunderbare Zusammenschmelzen der Stim¬
mung in Natur und Leben, welches uns in aller Einfachheit immer wie die
Enthüllung innerster Geheimnisse berührt. Wir athmen mit dem Dichter den
Hauch des thaufrischen Morgens, des sonnenheißen Waldes, wir durchleben den
Phantastisch eindrucksvoller Wechsel der wunderlichen Begegnungen, die dem
jungen Heinrich Lee zu Theil werden, und die Entfaltung einer Jugendliebe,
deren Leid und Seligkeit sich nnter dem Andrange des Alltags und unter den
Augen der Alltäglichen wie eine fremde Blüthe entfalten muß, die für ein hei¬
misches Kraut genommen wird. Die Poesie, welche der Dichter in das Ge¬
meinste und Unscheinbarste zu legen weiß, die Innigkeit, mit der er sich dem
Detail seiner Geschichte hingiebt und doch kaum ein und das andere Mal im
vorwärtsdrängenden Zug der Erzählung nachläßt, fordern zu den stärksten Ver¬
gleichen heraus, und doch sind alle Vergleiche falsch: Gottfried Keller ist und
bleibt er selbst, und die Sicherheit, mit der er die Elemente seines Romans
mischt und beherrscht, erwächst nur aus dem Boden seiner persönlichsten Ein¬
drücke. Mit aller mannigfaltigen Erfindungskraft, aller Objektivität, die den
Dichter auszeichnen, verleugnet er den subjectiven Kern seiner ursprünglichen
Anlage so wenig, als den heimatlichen Zug, der durch den „Grünen Heinrich"
wie durch die späteren Dichtungen Kellers hindurchgeht.

Es ist natürlich mehr heimatlicher Zug, Eindruck und Einfluß der Um¬
gebungen, als ein Mangel der poetischen Natur, wenn die Vorstellungsweise
Kellers hier und da ein Element ungelöster Prosa und eine moralisch prosaische
Betrachtung, die nicht subjectiv und wirkliches Eigenthum des Dichters geworden
ist, aufweist. Der Poet, dem das tiefste Empfindungsleben erschlossen ist, dessen
Gestalten meist von echtem Herzschläge und von gutem Blute sind, nimmt ge¬
legentlich ein paar Situationen und ein paar Figuren auf, welche nur äußer¬
lich eine Lücke füllen helfen und eine gewisse Nüchternheit nicht einmal mit
dem Zaubermittel bewältigen, welches ihm sonst im reichsten Maße zu Gebot
steht. Denn der eigentliche Fluß des Romans in allen Theilen, wo sich der
Dichter nicht dramatisch darstellend und in breiterer Detaillirung ergeht (was
freilich bei den vorzüglichsten Partien des „Grünen Heinrich" überall der Fall


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[0450] frühes Liebesleben zwischen der schlanken, feinen Schulmeisterstochter Anna und der trotzig sinnlichen Judith geschildert; die Idylle der verschiedenen Aufenthalte Heinrich Lech auf dein Gute seines Oheims, in der romantischen Umgebung erreicht das Höchste, was der Dichter überhaupt zu geben vermag. Nicht nur Gestalten werden hier vor uns lebendig, nicht nur blicken wir tief in die Seele des Helden und aller der Menschen hinab, mit denen er in diesen fast traum¬ haften und doch so lebensvollen Zuständen in Berührung kommt, nicht nur tritt die Scenerie der Handlung in Heller Beleuchtung und kräftigen Farben vor uns, sondern es erfolgt jenes wunderbare Zusammenschmelzen der Stim¬ mung in Natur und Leben, welches uns in aller Einfachheit immer wie die Enthüllung innerster Geheimnisse berührt. Wir athmen mit dem Dichter den Hauch des thaufrischen Morgens, des sonnenheißen Waldes, wir durchleben den Phantastisch eindrucksvoller Wechsel der wunderlichen Begegnungen, die dem jungen Heinrich Lee zu Theil werden, und die Entfaltung einer Jugendliebe, deren Leid und Seligkeit sich nnter dem Andrange des Alltags und unter den Augen der Alltäglichen wie eine fremde Blüthe entfalten muß, die für ein hei¬ misches Kraut genommen wird. Die Poesie, welche der Dichter in das Ge¬ meinste und Unscheinbarste zu legen weiß, die Innigkeit, mit der er sich dem Detail seiner Geschichte hingiebt und doch kaum ein und das andere Mal im vorwärtsdrängenden Zug der Erzählung nachläßt, fordern zu den stärksten Ver¬ gleichen heraus, und doch sind alle Vergleiche falsch: Gottfried Keller ist und bleibt er selbst, und die Sicherheit, mit der er die Elemente seines Romans mischt und beherrscht, erwächst nur aus dem Boden seiner persönlichsten Ein¬ drücke. Mit aller mannigfaltigen Erfindungskraft, aller Objektivität, die den Dichter auszeichnen, verleugnet er den subjectiven Kern seiner ursprünglichen Anlage so wenig, als den heimatlichen Zug, der durch den „Grünen Heinrich" wie durch die späteren Dichtungen Kellers hindurchgeht. Es ist natürlich mehr heimatlicher Zug, Eindruck und Einfluß der Um¬ gebungen, als ein Mangel der poetischen Natur, wenn die Vorstellungsweise Kellers hier und da ein Element ungelöster Prosa und eine moralisch prosaische Betrachtung, die nicht subjectiv und wirkliches Eigenthum des Dichters geworden ist, aufweist. Der Poet, dem das tiefste Empfindungsleben erschlossen ist, dessen Gestalten meist von echtem Herzschläge und von gutem Blute sind, nimmt ge¬ legentlich ein paar Situationen und ein paar Figuren auf, welche nur äußer¬ lich eine Lücke füllen helfen und eine gewisse Nüchternheit nicht einmal mit dem Zaubermittel bewältigen, welches ihm sonst im reichsten Maße zu Gebot steht. Denn der eigentliche Fluß des Romans in allen Theilen, wo sich der Dichter nicht dramatisch darstellend und in breiterer Detaillirung ergeht (was freilich bei den vorzüglichsten Partien des „Grünen Heinrich" überall der Fall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/450>, abgerufen am 23.07.2024.