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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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noch nicht völlig vollendet ist. Denn von der Neuausgabe liegen uns zu¬
nächst nur jene drei Theile vor, welche die Schicksale Heinrich Lech von seinen
Knabentagen bis zum Beginn der zweiten Periode seines Aufenthalts in einer
deutschen Kunststadt (München) und bis zu seiner plötzlich eintretenden Verein¬
samung erzählen. Immerhin aber reichen diese ersten Bände hin, um die Frage
aufzuwerfen und zu lösen, mit welcher man nicht nur an den "Grünen Heinrich",
sondern thatsächlich an alles, was Keller (die beiden lyrischen Sammlungen aus¬
genommen) gedichtet hat, herantreten muß, die Frage: Genügt zur vollen und
tiefsten poetischen Wirkung die Darstellung eines voll angeschauter, voll mit¬
empfundenen, in seiner Weise bedeutenden und mächtigen Stückes Menschenleben,
oder genügt sie nicht? "Der grüne Heinrich" ist ein Roman, dessen Held (ein
Künstler, wider dessen innerliche Entwicklung sich im Gründe von der ersten
Stunde an alles verschwört, während ihn vieles zu fördern scheint) weder als
Idealfigur im landläufigen Sinne, noch als abschreckende Gestalt, als warnen¬
des Exempel im gewöhnlichen Wortsinne hingestellt werden kann. Es ist ein
eigenthümliches, in seiner Weise einziges Menschenschicksal, das der "Grüne
Heinrich" vorführt. Der Roman ist von jedem tendenzösen Zug, jeder ver¬
stärkten Absicht, auch der, welche mit der echten Poesie noch vollkommen ver¬
einbar und in ihr gestattet ist, so frei, daß ihn Naturen, die der Tendenz be¬
dürfen und am Meuschenschicksal an sich keinen Antheil nehmen wollen oder
können, nothwendig uninteressant finden müssen. Auf der andern Seite: er ist
so erlebt, durchlebt, so getränkt von quellenden Leben, so durchhaucht von un¬
mittelbarer und leidenschaftlicher Wärme, er umspannt, indem er ein Einzel¬
schicksal eines irregeheirden, tastenden, suchenden Menschen bis in die letzten Tiefen
enthüllt, eine solche Fülle, eine Welt verschiedenartiger, köstlich origineller Ge¬
stalten und jener Wunder, die sich fort und fort mitten in der Welt des All¬
tags ereignen, daß er dem Antheilnehmenden noch reicher erscheinen mag
als er ist. Nur dem, welcher das Recht der ewigen, der unmittelbaren Poesie
anerkennt, kann die ganze Bedeutung eines Buches wie "Der grüne Heinrich"
ist, entgegentreten. "Naiv" ist hier freilich nicht in dem Sinne zu verstehen, daß
die Reflexion über menschliche Zustände, über Räthsel des Lebens und der
Natur an dem poetischen Gebilde keinen Antheil hätte. Im Gegentheil ist das
Element der Reflexion um so stärker, als der "Grüne Heinrich" die ganze Lebens-
entwicklung und also auch die Gedankenentwicklung eines begabten Autodi¬
dakten der kräftigsten Art darstellt. Wir wagen nicht zu sagen, daß er ein
autobiographischer Roman in dem Sinne sei, in dem Karl Philipp Moritz seinen
"Anton Reiser" geschrieben, aber unzweifelhaft hat der Dichter eine Fülle per¬
sönlicher Erlebnisse und Erfahrungen, innerer noch mehr als äußerer, in sein
Buch hineingedichtet. Aber was immer das Verhältniß Kellers zur Erfindung des


noch nicht völlig vollendet ist. Denn von der Neuausgabe liegen uns zu¬
nächst nur jene drei Theile vor, welche die Schicksale Heinrich Lech von seinen
Knabentagen bis zum Beginn der zweiten Periode seines Aufenthalts in einer
deutschen Kunststadt (München) und bis zu seiner plötzlich eintretenden Verein¬
samung erzählen. Immerhin aber reichen diese ersten Bände hin, um die Frage
aufzuwerfen und zu lösen, mit welcher man nicht nur an den „Grünen Heinrich",
sondern thatsächlich an alles, was Keller (die beiden lyrischen Sammlungen aus¬
genommen) gedichtet hat, herantreten muß, die Frage: Genügt zur vollen und
tiefsten poetischen Wirkung die Darstellung eines voll angeschauter, voll mit¬
empfundenen, in seiner Weise bedeutenden und mächtigen Stückes Menschenleben,
oder genügt sie nicht? „Der grüne Heinrich" ist ein Roman, dessen Held (ein
Künstler, wider dessen innerliche Entwicklung sich im Gründe von der ersten
Stunde an alles verschwört, während ihn vieles zu fördern scheint) weder als
Idealfigur im landläufigen Sinne, noch als abschreckende Gestalt, als warnen¬
des Exempel im gewöhnlichen Wortsinne hingestellt werden kann. Es ist ein
eigenthümliches, in seiner Weise einziges Menschenschicksal, das der „Grüne
Heinrich" vorführt. Der Roman ist von jedem tendenzösen Zug, jeder ver¬
stärkten Absicht, auch der, welche mit der echten Poesie noch vollkommen ver¬
einbar und in ihr gestattet ist, so frei, daß ihn Naturen, die der Tendenz be¬
dürfen und am Meuschenschicksal an sich keinen Antheil nehmen wollen oder
können, nothwendig uninteressant finden müssen. Auf der andern Seite: er ist
so erlebt, durchlebt, so getränkt von quellenden Leben, so durchhaucht von un¬
mittelbarer und leidenschaftlicher Wärme, er umspannt, indem er ein Einzel¬
schicksal eines irregeheirden, tastenden, suchenden Menschen bis in die letzten Tiefen
enthüllt, eine solche Fülle, eine Welt verschiedenartiger, köstlich origineller Ge¬
stalten und jener Wunder, die sich fort und fort mitten in der Welt des All¬
tags ereignen, daß er dem Antheilnehmenden noch reicher erscheinen mag
als er ist. Nur dem, welcher das Recht der ewigen, der unmittelbaren Poesie
anerkennt, kann die ganze Bedeutung eines Buches wie „Der grüne Heinrich"
ist, entgegentreten. „Naiv" ist hier freilich nicht in dem Sinne zu verstehen, daß
die Reflexion über menschliche Zustände, über Räthsel des Lebens und der
Natur an dem poetischen Gebilde keinen Antheil hätte. Im Gegentheil ist das
Element der Reflexion um so stärker, als der „Grüne Heinrich" die ganze Lebens-
entwicklung und also auch die Gedankenentwicklung eines begabten Autodi¬
dakten der kräftigsten Art darstellt. Wir wagen nicht zu sagen, daß er ein
autobiographischer Roman in dem Sinne sei, in dem Karl Philipp Moritz seinen
„Anton Reiser" geschrieben, aber unzweifelhaft hat der Dichter eine Fülle per¬
sönlicher Erlebnisse und Erfahrungen, innerer noch mehr als äußerer, in sein
Buch hineingedichtet. Aber was immer das Verhältniß Kellers zur Erfindung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/448>, abgerufen am 23.07.2024.