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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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nologie des spanischen Parteilebens entlehnt worden, das in seiner Terminologie
merkwürdig glücklich ist, die andere Bezeichnung haben kürzlich die Franzosen
gefunden. Die Ausdrücke sind Jntransigentismus und Opportunismus. Die
Weidenbuschpartei zur Zeit der Paulskirche und die nachherigen Gothaner waren
Opportunisten, die Demokraten waren Jntransigenten. Der Gegensatz zwischen
Jntransigenz und Opportunismus erscheint im Anfange regelmäßig als Unter¬
schied der Methode, aber er bildet sich regelmäßig aus zum Gegensatz der Ziele.
Die nationalliberale Partei, nach den Siegen von 1866 gegründet, traf den
glücklichsten Zeitpunkt, eine populäre und fruchtbare Politik des Opportunismus
einzuweihen. So glücklich war die Wahl des Zeitpunktes, so deutlich das Gebot
der beginnenden Periode des Staatslebens, so groß die Macht des Ereignisses,
aus welchem diese Periode sich entwickelte, daß auch viele intransigente Naturen
in die opportunistische Partei eintraten.

Aus zwei Eigenschaften geht die Jntransigenz hervor, die gewöhnlich
zusammenwirken, von denen aber schon jede allein den Jntransigenten macht:
Beschränktheit der Bildung und Unzugänglichkeit des Temperaments. Der Oppor¬
tunismus seinerseits wird in eine klägliche Rolle sinken, wenn er sich nicht über
unselbständige Gelegenheitspolitik erhebt. Aus den Thatsachen und Mächten,
denen gegenüber er sich nicht intransigent verhält, muß er ein tieferes
Verständniß der Läge der Zeit und des Volkes gewinnen, wie es die Grund¬
sätze, von welchen er ausging und welche die Jntransigenten festhalten, nicht
enthalten haben. So bleibt der Opportunismus nicht der Diener der Macht,
sondern er erlangt die geistige Freiheit, die selbständige Productivitüt wieder,
während der Jntransigentismus erst zurückbleibt, dann aber der radicalen Nega¬
tion verfällt.

In der nationalliberalen Partei vollzieht sich nichts anderes als das leider
weit über Noth und Gebühr verspätete Ausscheiden der intransigenten Elemente.
Der Hauptschaden, den der Aufschub der Trennung herbeigeführt hat, scheint
uns in dem Aufenthalte zu liegen, welcher der Arbeit des Opportunismus in
der Vertiefung der öffentlichen politischen Einsicht bereitet worden ist.

Der deutsche liberale Opportunismus hat eine Thatsache geistig zu bewäl¬
tigen, wie sie den opportunistischen Richtungen in anderen Zeiten und Nationen
noch niemals vorgelegen hat, das ist die welthistorische Wirksamkeit des Fürsten
Bismarck. Die liberalen Opportunisten, welche glücklicher und verdienter Weise
sich den Namen Nationalliberale durch die Jntransigenten nicht haben entreißen
lassen, diese patriotischen Opportunisten also sollen nicht die unselbständigen
Diener der Politik eines großen Mannes nach ihren täglichen, selbst opportuni¬
stisch wechselnden Anforderungen werden, sondern sie sollen den Erwerb der
großen Wirksamkeit verstehen und geistig verwerthen; sie sollen begreifen und


nologie des spanischen Parteilebens entlehnt worden, das in seiner Terminologie
merkwürdig glücklich ist, die andere Bezeichnung haben kürzlich die Franzosen
gefunden. Die Ausdrücke sind Jntransigentismus und Opportunismus. Die
Weidenbuschpartei zur Zeit der Paulskirche und die nachherigen Gothaner waren
Opportunisten, die Demokraten waren Jntransigenten. Der Gegensatz zwischen
Jntransigenz und Opportunismus erscheint im Anfange regelmäßig als Unter¬
schied der Methode, aber er bildet sich regelmäßig aus zum Gegensatz der Ziele.
Die nationalliberale Partei, nach den Siegen von 1866 gegründet, traf den
glücklichsten Zeitpunkt, eine populäre und fruchtbare Politik des Opportunismus
einzuweihen. So glücklich war die Wahl des Zeitpunktes, so deutlich das Gebot
der beginnenden Periode des Staatslebens, so groß die Macht des Ereignisses,
aus welchem diese Periode sich entwickelte, daß auch viele intransigente Naturen
in die opportunistische Partei eintraten.

Aus zwei Eigenschaften geht die Jntransigenz hervor, die gewöhnlich
zusammenwirken, von denen aber schon jede allein den Jntransigenten macht:
Beschränktheit der Bildung und Unzugänglichkeit des Temperaments. Der Oppor¬
tunismus seinerseits wird in eine klägliche Rolle sinken, wenn er sich nicht über
unselbständige Gelegenheitspolitik erhebt. Aus den Thatsachen und Mächten,
denen gegenüber er sich nicht intransigent verhält, muß er ein tieferes
Verständniß der Läge der Zeit und des Volkes gewinnen, wie es die Grund¬
sätze, von welchen er ausging und welche die Jntransigenten festhalten, nicht
enthalten haben. So bleibt der Opportunismus nicht der Diener der Macht,
sondern er erlangt die geistige Freiheit, die selbständige Productivitüt wieder,
während der Jntransigentismus erst zurückbleibt, dann aber der radicalen Nega¬
tion verfällt.

In der nationalliberalen Partei vollzieht sich nichts anderes als das leider
weit über Noth und Gebühr verspätete Ausscheiden der intransigenten Elemente.
Der Hauptschaden, den der Aufschub der Trennung herbeigeführt hat, scheint
uns in dem Aufenthalte zu liegen, welcher der Arbeit des Opportunismus in
der Vertiefung der öffentlichen politischen Einsicht bereitet worden ist.

Der deutsche liberale Opportunismus hat eine Thatsache geistig zu bewäl¬
tigen, wie sie den opportunistischen Richtungen in anderen Zeiten und Nationen
noch niemals vorgelegen hat, das ist die welthistorische Wirksamkeit des Fürsten
Bismarck. Die liberalen Opportunisten, welche glücklicher und verdienter Weise
sich den Namen Nationalliberale durch die Jntransigenten nicht haben entreißen
lassen, diese patriotischen Opportunisten also sollen nicht die unselbständigen
Diener der Politik eines großen Mannes nach ihren täglichen, selbst opportuni¬
stisch wechselnden Anforderungen werden, sondern sie sollen den Erwerb der
großen Wirksamkeit verstehen und geistig verwerthen; sie sollen begreifen und


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[0431] nologie des spanischen Parteilebens entlehnt worden, das in seiner Terminologie merkwürdig glücklich ist, die andere Bezeichnung haben kürzlich die Franzosen gefunden. Die Ausdrücke sind Jntransigentismus und Opportunismus. Die Weidenbuschpartei zur Zeit der Paulskirche und die nachherigen Gothaner waren Opportunisten, die Demokraten waren Jntransigenten. Der Gegensatz zwischen Jntransigenz und Opportunismus erscheint im Anfange regelmäßig als Unter¬ schied der Methode, aber er bildet sich regelmäßig aus zum Gegensatz der Ziele. Die nationalliberale Partei, nach den Siegen von 1866 gegründet, traf den glücklichsten Zeitpunkt, eine populäre und fruchtbare Politik des Opportunismus einzuweihen. So glücklich war die Wahl des Zeitpunktes, so deutlich das Gebot der beginnenden Periode des Staatslebens, so groß die Macht des Ereignisses, aus welchem diese Periode sich entwickelte, daß auch viele intransigente Naturen in die opportunistische Partei eintraten. Aus zwei Eigenschaften geht die Jntransigenz hervor, die gewöhnlich zusammenwirken, von denen aber schon jede allein den Jntransigenten macht: Beschränktheit der Bildung und Unzugänglichkeit des Temperaments. Der Oppor¬ tunismus seinerseits wird in eine klägliche Rolle sinken, wenn er sich nicht über unselbständige Gelegenheitspolitik erhebt. Aus den Thatsachen und Mächten, denen gegenüber er sich nicht intransigent verhält, muß er ein tieferes Verständniß der Läge der Zeit und des Volkes gewinnen, wie es die Grund¬ sätze, von welchen er ausging und welche die Jntransigenten festhalten, nicht enthalten haben. So bleibt der Opportunismus nicht der Diener der Macht, sondern er erlangt die geistige Freiheit, die selbständige Productivitüt wieder, während der Jntransigentismus erst zurückbleibt, dann aber der radicalen Nega¬ tion verfällt. In der nationalliberalen Partei vollzieht sich nichts anderes als das leider weit über Noth und Gebühr verspätete Ausscheiden der intransigenten Elemente. Der Hauptschaden, den der Aufschub der Trennung herbeigeführt hat, scheint uns in dem Aufenthalte zu liegen, welcher der Arbeit des Opportunismus in der Vertiefung der öffentlichen politischen Einsicht bereitet worden ist. Der deutsche liberale Opportunismus hat eine Thatsache geistig zu bewäl¬ tigen, wie sie den opportunistischen Richtungen in anderen Zeiten und Nationen noch niemals vorgelegen hat, das ist die welthistorische Wirksamkeit des Fürsten Bismarck. Die liberalen Opportunisten, welche glücklicher und verdienter Weise sich den Namen Nationalliberale durch die Jntransigenten nicht haben entreißen lassen, diese patriotischen Opportunisten also sollen nicht die unselbständigen Diener der Politik eines großen Mannes nach ihren täglichen, selbst opportuni¬ stisch wechselnden Anforderungen werden, sondern sie sollen den Erwerb der großen Wirksamkeit verstehen und geistig verwerthen; sie sollen begreifen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/431>, abgerufen am 03.07.2024.