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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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so in eine schwebende Stellung versetzte. Diese Probe, deren geheime Absicht
meinem Wunsche gemäß den Anwesenden unerkannt blieb, fiel so zu meiner Zu¬
friedenheit aus, daß ich keinen Augenblick Bedenken trug, den so lange schon
gehegten unseligen Gedanken des Erhängens nunmehr zur Ausführung zu bringen.
Um Mitternacht, während der Schlaf an allen, nur nicht an mir, seine Macht
bewährte, machte ich mir in der Schnelligkeit eine Schlinge, erhob mich leise
mittelst des Fasses so hoch, daß ich den Balken erreichen konnte, und hängte
mich an denselben. Da drängte sich abermals -- ich weiß nicht, ob ich sagen
soll tückisch oder wohlwollend -- der Zufall dazwischen. strampelnd stieß ich
das unter mir stehende Kapusten- (Kraut-) Faß um. Durch den so entstan¬
denen Lärm und mehr noch durch die aus dem Krautbehülter fließende, die
Füße der Daliegenden erreichende Brühe wurden die Schlafenden aufgeweckt.
Sie bemerkten mit Schrecken, was ich in meiner Verzweiflung abermals hatte
ausführen wollen, und belohnten mich anch hier mit einer tüchtigen Tracht Prügel.

Meine Verrücktheit stieg nun immer höher. Wie ein wüthendes Thier
rannte ich, wie mir später erzählt wurde, von einer Stelle zur anderen und riß
ohne alle Rücksicht aus fremden Schüsseln und Händen, was anderen zur Nah¬
rung bestimmt war. Da die Versuche des Erhängens übel abgelaufen waren,
sann ich jetzt auf ein Mittel, meine Gesundheit wieder herzustellen. Val: neuem
wandte ich mein Vertrauen dem Tabakssafte zu. Viel hilft viel, dachte ich, und
schluckte eine bedeutende Quantität des gräßlich bitteren und beißenden Tcibaks-
extraetes hinunter. Dies wirkte und wirkte entsetzlich. Nach dem reichliche::
Genusse dieses Desperationsmittels bemächtigte sich meiner eine horrende, mit
unsäglichen Schmerzen verbundene Angst, in welcher ich meinen Weg durchs
Fenster nahm, um ins Freie zu kommen und dort zu erfrieren. Um dies rascher
zu erreichen, legte ich mich auf den Schnee und erwartete unter den fürchter¬
lichsten Qualen das Ende derselben. Hier fanden mich einige meiner Kame¬
raden, die, um mich besorgt, mir nachgegangen waren, in einem kläglichen Zu¬
stande, an Händen und Füßen ziemlich erfroren und fast schwimmend im Blute.
Das letztere war in Folge des massenhaft genommenen Tabakssaftes von mir
gegangen. Damit war aber auch meine peinliche Krankheit auf einmal gehoben.
Der Schnee, in welchen ich meine erfrorenen Glieder steckte, zog allmählich den
Frost aus denselben, und nun, da das klare Bewußtsein mir wiederkehrte, be¬
reute ich die Versuche, die ich zur Vernichtung meines Lebens gemacht hatte,
und suchte meine völlige Wiederherstellung durch sorgliche Anwendung des Schnees
bei meinen erfrorenen Gliedern zu erlangen.

Auch die wenigen anderen Kameraden, welche früher mit dein Plane des
Selbstmordes umgegangen, faßten jetzt, da ihr Schicksal nach und nach erträg-
licher wurde, neue Lebenshoffnung. Die Einflüsse, welche uns Arme bisher ge-


so in eine schwebende Stellung versetzte. Diese Probe, deren geheime Absicht
meinem Wunsche gemäß den Anwesenden unerkannt blieb, fiel so zu meiner Zu¬
friedenheit aus, daß ich keinen Augenblick Bedenken trug, den so lange schon
gehegten unseligen Gedanken des Erhängens nunmehr zur Ausführung zu bringen.
Um Mitternacht, während der Schlaf an allen, nur nicht an mir, seine Macht
bewährte, machte ich mir in der Schnelligkeit eine Schlinge, erhob mich leise
mittelst des Fasses so hoch, daß ich den Balken erreichen konnte, und hängte
mich an denselben. Da drängte sich abermals — ich weiß nicht, ob ich sagen
soll tückisch oder wohlwollend — der Zufall dazwischen. strampelnd stieß ich
das unter mir stehende Kapusten- (Kraut-) Faß um. Durch den so entstan¬
denen Lärm und mehr noch durch die aus dem Krautbehülter fließende, die
Füße der Daliegenden erreichende Brühe wurden die Schlafenden aufgeweckt.
Sie bemerkten mit Schrecken, was ich in meiner Verzweiflung abermals hatte
ausführen wollen, und belohnten mich anch hier mit einer tüchtigen Tracht Prügel.

Meine Verrücktheit stieg nun immer höher. Wie ein wüthendes Thier
rannte ich, wie mir später erzählt wurde, von einer Stelle zur anderen und riß
ohne alle Rücksicht aus fremden Schüsseln und Händen, was anderen zur Nah¬
rung bestimmt war. Da die Versuche des Erhängens übel abgelaufen waren,
sann ich jetzt auf ein Mittel, meine Gesundheit wieder herzustellen. Val: neuem
wandte ich mein Vertrauen dem Tabakssafte zu. Viel hilft viel, dachte ich, und
schluckte eine bedeutende Quantität des gräßlich bitteren und beißenden Tcibaks-
extraetes hinunter. Dies wirkte und wirkte entsetzlich. Nach dem reichliche::
Genusse dieses Desperationsmittels bemächtigte sich meiner eine horrende, mit
unsäglichen Schmerzen verbundene Angst, in welcher ich meinen Weg durchs
Fenster nahm, um ins Freie zu kommen und dort zu erfrieren. Um dies rascher
zu erreichen, legte ich mich auf den Schnee und erwartete unter den fürchter¬
lichsten Qualen das Ende derselben. Hier fanden mich einige meiner Kame¬
raden, die, um mich besorgt, mir nachgegangen waren, in einem kläglichen Zu¬
stande, an Händen und Füßen ziemlich erfroren und fast schwimmend im Blute.
Das letztere war in Folge des massenhaft genommenen Tabakssaftes von mir
gegangen. Damit war aber auch meine peinliche Krankheit auf einmal gehoben.
Der Schnee, in welchen ich meine erfrorenen Glieder steckte, zog allmählich den
Frost aus denselben, und nun, da das klare Bewußtsein mir wiederkehrte, be¬
reute ich die Versuche, die ich zur Vernichtung meines Lebens gemacht hatte,
und suchte meine völlige Wiederherstellung durch sorgliche Anwendung des Schnees
bei meinen erfrorenen Gliedern zu erlangen.

Auch die wenigen anderen Kameraden, welche früher mit dein Plane des
Selbstmordes umgegangen, faßten jetzt, da ihr Schicksal nach und nach erträg-
licher wurde, neue Lebenshoffnung. Die Einflüsse, welche uns Arme bisher ge-


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[0413] so in eine schwebende Stellung versetzte. Diese Probe, deren geheime Absicht meinem Wunsche gemäß den Anwesenden unerkannt blieb, fiel so zu meiner Zu¬ friedenheit aus, daß ich keinen Augenblick Bedenken trug, den so lange schon gehegten unseligen Gedanken des Erhängens nunmehr zur Ausführung zu bringen. Um Mitternacht, während der Schlaf an allen, nur nicht an mir, seine Macht bewährte, machte ich mir in der Schnelligkeit eine Schlinge, erhob mich leise mittelst des Fasses so hoch, daß ich den Balken erreichen konnte, und hängte mich an denselben. Da drängte sich abermals — ich weiß nicht, ob ich sagen soll tückisch oder wohlwollend — der Zufall dazwischen. strampelnd stieß ich das unter mir stehende Kapusten- (Kraut-) Faß um. Durch den so entstan¬ denen Lärm und mehr noch durch die aus dem Krautbehülter fließende, die Füße der Daliegenden erreichende Brühe wurden die Schlafenden aufgeweckt. Sie bemerkten mit Schrecken, was ich in meiner Verzweiflung abermals hatte ausführen wollen, und belohnten mich anch hier mit einer tüchtigen Tracht Prügel. Meine Verrücktheit stieg nun immer höher. Wie ein wüthendes Thier rannte ich, wie mir später erzählt wurde, von einer Stelle zur anderen und riß ohne alle Rücksicht aus fremden Schüsseln und Händen, was anderen zur Nah¬ rung bestimmt war. Da die Versuche des Erhängens übel abgelaufen waren, sann ich jetzt auf ein Mittel, meine Gesundheit wieder herzustellen. Val: neuem wandte ich mein Vertrauen dem Tabakssafte zu. Viel hilft viel, dachte ich, und schluckte eine bedeutende Quantität des gräßlich bitteren und beißenden Tcibaks- extraetes hinunter. Dies wirkte und wirkte entsetzlich. Nach dem reichliche:: Genusse dieses Desperationsmittels bemächtigte sich meiner eine horrende, mit unsäglichen Schmerzen verbundene Angst, in welcher ich meinen Weg durchs Fenster nahm, um ins Freie zu kommen und dort zu erfrieren. Um dies rascher zu erreichen, legte ich mich auf den Schnee und erwartete unter den fürchter¬ lichsten Qualen das Ende derselben. Hier fanden mich einige meiner Kame¬ raden, die, um mich besorgt, mir nachgegangen waren, in einem kläglichen Zu¬ stande, an Händen und Füßen ziemlich erfroren und fast schwimmend im Blute. Das letztere war in Folge des massenhaft genommenen Tabakssaftes von mir gegangen. Damit war aber auch meine peinliche Krankheit auf einmal gehoben. Der Schnee, in welchen ich meine erfrorenen Glieder steckte, zog allmählich den Frost aus denselben, und nun, da das klare Bewußtsein mir wiederkehrte, be¬ reute ich die Versuche, die ich zur Vernichtung meines Lebens gemacht hatte, und suchte meine völlige Wiederherstellung durch sorgliche Anwendung des Schnees bei meinen erfrorenen Gliedern zu erlangen. Auch die wenigen anderen Kameraden, welche früher mit dein Plane des Selbstmordes umgegangen, faßten jetzt, da ihr Schicksal nach und nach erträg- licher wurde, neue Lebenshoffnung. Die Einflüsse, welche uns Arme bisher ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/413>, abgerufen am 23.07.2024.