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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Civilisation. Lord Stratfvrd gehörte mit anderen Worten zwar den Whigs,
also der liberalen Partei, aber zugleich einer Diplomatenschule an, die, abwei¬
chend von Cobden und Urquhart, welche die Nächtintervention predigten, und im
entschiedenen Gegensatze gegen Politiker, welche Beihilfe zur Vernichtung der
Türkei empfahlen, an die Nothwendigkeit glaubte, das ottomanische Reich durch
Reformen in seiner Verwaltung zu stützen, und die nichts von der jetzt in Eng¬
land regierenden Doctrin wissen wollte, der Türke müsse aus Europa hinaus-
reformirt werden, weil die Führer der Partei keine Ahnung davon hatten, wer
oder was seinen Platz einnehmen solle.

Die diplomatische Laufbahn des verstorbenen englischen Diplomaten ent¬
spricht der Zeit, wo der britische Einfluß in Stambul seine höchste Stufe er¬
reicht hatte und dieselbe lange Jahre behauptete. Während er Gesandter war,
war er "der große Eltschi", der Mann, dessen genaue Kenntniß der Verhältnisse
und Personen, dessen klarer Blick, dessen redliche Absichten, dessen Charakter¬
stärke und dessen energisches Temperament ihn zum Schrecken der Cliquen von
corrupten Paschas, zum Popanz für Wessire, die zur Verschleppung hinneigten,
zum Aerger und Verdruß träger und gedankenloser Sultaue und mit allen
diesen Eigenschaften zum besten Freunde der Pforte machten. Daß es ihm
nicht gelang, die Türken vor ihren Feinden zu retten, war nicht seine Schuld;
er versuchte sei" Aeußerstes. Wo er sein Ziel nicht erreichte, wird es einem
anderen mit weniger bedeutender Begabung aller Wahrscheinlichkeit nach noch
weniger gelingen. Man kann einstimmen, wenn ein Londoner Blatt bei der
Nachricht von seinem Tode bemerkt: "Er war ein großer Engländer, beseelt
von hohen, das Reichsiuteresse zum Ziele habenden Motiven, ein Gesandter, bei
welchem die patriotische Gesinnung mehr angeborene Leidenschaft als angelernte
Tugend war, und wenn seine Arbeit keinen bleibenden Eindruck auf die Ent¬
wicklung der Rasse zurückgelassen hat, die er zu retten bemüht war, so liegt die
Schuld uicht an ihm, sondern am Glücke, dessen gewundene Wege auch er nicht
gerade machen konnte."

Lord Stratford de Nedcliffe oder, wie er früher hieß, Sir Stratford Canning
war nicht "im Purpur" der Diplomatie geboren. In der That, er entstammte
dein Mittelstande, und sein Charakter zeigt Spuren dieser Herkunft. Er war
ein Mann, der direct auf sein Ziel losging, hartnäckig an seinen Entschlüssen
festhielt und einfach, praktisch, bisweilen etwas herrisch das that, was ihm vor
der Hand lag und ihm als Pflicht erschien -- Eigenschaften, die man besonders
häufig in Kaufmannsfamilien als Erbe vom Vater auf den Sohn übergehen
sieht. Die einzige directe Verbindung, in der er mit den oberen und regieren¬
den Schichten der englischen Gesellschaft stand, war sein Familienname, d. h.
er war ein entfernter Verwandter Georg Canniugs, den seine glänzende Lauf-


Civilisation. Lord Stratfvrd gehörte mit anderen Worten zwar den Whigs,
also der liberalen Partei, aber zugleich einer Diplomatenschule an, die, abwei¬
chend von Cobden und Urquhart, welche die Nächtintervention predigten, und im
entschiedenen Gegensatze gegen Politiker, welche Beihilfe zur Vernichtung der
Türkei empfahlen, an die Nothwendigkeit glaubte, das ottomanische Reich durch
Reformen in seiner Verwaltung zu stützen, und die nichts von der jetzt in Eng¬
land regierenden Doctrin wissen wollte, der Türke müsse aus Europa hinaus-
reformirt werden, weil die Führer der Partei keine Ahnung davon hatten, wer
oder was seinen Platz einnehmen solle.

Die diplomatische Laufbahn des verstorbenen englischen Diplomaten ent¬
spricht der Zeit, wo der britische Einfluß in Stambul seine höchste Stufe er¬
reicht hatte und dieselbe lange Jahre behauptete. Während er Gesandter war,
war er „der große Eltschi", der Mann, dessen genaue Kenntniß der Verhältnisse
und Personen, dessen klarer Blick, dessen redliche Absichten, dessen Charakter¬
stärke und dessen energisches Temperament ihn zum Schrecken der Cliquen von
corrupten Paschas, zum Popanz für Wessire, die zur Verschleppung hinneigten,
zum Aerger und Verdruß träger und gedankenloser Sultaue und mit allen
diesen Eigenschaften zum besten Freunde der Pforte machten. Daß es ihm
nicht gelang, die Türken vor ihren Feinden zu retten, war nicht seine Schuld;
er versuchte sei» Aeußerstes. Wo er sein Ziel nicht erreichte, wird es einem
anderen mit weniger bedeutender Begabung aller Wahrscheinlichkeit nach noch
weniger gelingen. Man kann einstimmen, wenn ein Londoner Blatt bei der
Nachricht von seinem Tode bemerkt: „Er war ein großer Engländer, beseelt
von hohen, das Reichsiuteresse zum Ziele habenden Motiven, ein Gesandter, bei
welchem die patriotische Gesinnung mehr angeborene Leidenschaft als angelernte
Tugend war, und wenn seine Arbeit keinen bleibenden Eindruck auf die Ent¬
wicklung der Rasse zurückgelassen hat, die er zu retten bemüht war, so liegt die
Schuld uicht an ihm, sondern am Glücke, dessen gewundene Wege auch er nicht
gerade machen konnte."

Lord Stratford de Nedcliffe oder, wie er früher hieß, Sir Stratford Canning
war nicht „im Purpur" der Diplomatie geboren. In der That, er entstammte
dein Mittelstande, und sein Charakter zeigt Spuren dieser Herkunft. Er war
ein Mann, der direct auf sein Ziel losging, hartnäckig an seinen Entschlüssen
festhielt und einfach, praktisch, bisweilen etwas herrisch das that, was ihm vor
der Hand lag und ihm als Pflicht erschien — Eigenschaften, die man besonders
häufig in Kaufmannsfamilien als Erbe vom Vater auf den Sohn übergehen
sieht. Die einzige directe Verbindung, in der er mit den oberen und regieren¬
den Schichten der englischen Gesellschaft stand, war sein Familienname, d. h.
er war ein entfernter Verwandter Georg Canniugs, den seine glänzende Lauf-


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[0393] Civilisation. Lord Stratfvrd gehörte mit anderen Worten zwar den Whigs, also der liberalen Partei, aber zugleich einer Diplomatenschule an, die, abwei¬ chend von Cobden und Urquhart, welche die Nächtintervention predigten, und im entschiedenen Gegensatze gegen Politiker, welche Beihilfe zur Vernichtung der Türkei empfahlen, an die Nothwendigkeit glaubte, das ottomanische Reich durch Reformen in seiner Verwaltung zu stützen, und die nichts von der jetzt in Eng¬ land regierenden Doctrin wissen wollte, der Türke müsse aus Europa hinaus- reformirt werden, weil die Führer der Partei keine Ahnung davon hatten, wer oder was seinen Platz einnehmen solle. Die diplomatische Laufbahn des verstorbenen englischen Diplomaten ent¬ spricht der Zeit, wo der britische Einfluß in Stambul seine höchste Stufe er¬ reicht hatte und dieselbe lange Jahre behauptete. Während er Gesandter war, war er „der große Eltschi", der Mann, dessen genaue Kenntniß der Verhältnisse und Personen, dessen klarer Blick, dessen redliche Absichten, dessen Charakter¬ stärke und dessen energisches Temperament ihn zum Schrecken der Cliquen von corrupten Paschas, zum Popanz für Wessire, die zur Verschleppung hinneigten, zum Aerger und Verdruß träger und gedankenloser Sultaue und mit allen diesen Eigenschaften zum besten Freunde der Pforte machten. Daß es ihm nicht gelang, die Türken vor ihren Feinden zu retten, war nicht seine Schuld; er versuchte sei» Aeußerstes. Wo er sein Ziel nicht erreichte, wird es einem anderen mit weniger bedeutender Begabung aller Wahrscheinlichkeit nach noch weniger gelingen. Man kann einstimmen, wenn ein Londoner Blatt bei der Nachricht von seinem Tode bemerkt: „Er war ein großer Engländer, beseelt von hohen, das Reichsiuteresse zum Ziele habenden Motiven, ein Gesandter, bei welchem die patriotische Gesinnung mehr angeborene Leidenschaft als angelernte Tugend war, und wenn seine Arbeit keinen bleibenden Eindruck auf die Ent¬ wicklung der Rasse zurückgelassen hat, die er zu retten bemüht war, so liegt die Schuld uicht an ihm, sondern am Glücke, dessen gewundene Wege auch er nicht gerade machen konnte." Lord Stratford de Nedcliffe oder, wie er früher hieß, Sir Stratford Canning war nicht „im Purpur" der Diplomatie geboren. In der That, er entstammte dein Mittelstande, und sein Charakter zeigt Spuren dieser Herkunft. Er war ein Mann, der direct auf sein Ziel losging, hartnäckig an seinen Entschlüssen festhielt und einfach, praktisch, bisweilen etwas herrisch das that, was ihm vor der Hand lag und ihm als Pflicht erschien — Eigenschaften, die man besonders häufig in Kaufmannsfamilien als Erbe vom Vater auf den Sohn übergehen sieht. Die einzige directe Verbindung, in der er mit den oberen und regieren¬ den Schichten der englischen Gesellschaft stand, war sein Familienname, d. h. er war ein entfernter Verwandter Georg Canniugs, den seine glänzende Lauf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/393>, abgerufen am 23.07.2024.