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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Mythus in folgerichtiger Entwicklung einen künstlerischen Ausdruck gefunden
hatten, der nach der idealen Seite hin einer Steigerung nicht mehr fähig war,
begannen bekanntlich die künstlerischen Kräfte, dem Zuge einer neuen Zeit folgend,
auf anderen Gebieten nach Stoffen auszugehen, welche der nicht mehr aus¬
schließlich dem Erhabenen zugewandten Richtung der Mitlebenden mehr entgegen¬
kamen. Die zunehmende Subjectivität der Künstler sucht sich in Bewältigung
neuer Stoffe geltend zu machen, und auch wenn sie sich an den alten versucht,
kaun sie, indem sie die von der früheren Kunst aufgestellten Typen auf das
Mannigfaltigste umgestaltet, sich nicht verleugnen.

Dieselbe Erscheinung wird wahrnehmbar, wenn man die historische Ent¬
wicklung der christliche" Kunst, dort wo sie sich am vollständigsten überblicken
läßt, auf italienischem Boden, ins Auge faßt. Bei keinem Volke der neuerm
Zeit sind wir in der Lage, innerhalb der dem christlichen Stoffkreise angehörigen
Darstellungen eine gleiche Continuität künstlerischer Ueberlieferung zu verfolge"
wie bei dem italienischen. Wir sehen Gestalten und Begebenheiten der biblischen
Geschichte, die durch Giotto und Andere typisches Gepräge erhielten, Jahrhunderte
hindurch festgehalten und mit mehr oder weniger Modificationen noch den Dar-
stellungen der größten Meister der Renaissance als Grundlage dienen. So
kehrt z. B. dasselbe Compositionsschema, welches Simone Martini bei der
Darstellung der Annunziata zu Siena anwandte, noch bei Fra Filippo Lippi,
Andrea Sansovino, Jnnocenzo da Jmola und hundert Anderen wieder; die
Heimsuchung Mariä, wie sie Giotto zu Assisi oder in der Arena zu Padua
uns vorführt, bei Ghirlandajo, Albertinelli, Bagnaccivallo, Sebastian del Pioinbo
und zahllosen anderen Meistern. Es würde zu weit führen, die Menge biblischer
Darstellungen, die sich in derselben Weise als ein fortlaufende Kette in Aufbau
und Anordnung fast völlig gleicher Compositionen durch die verschiedensten, in
stilistischer Bezeichnung durchaus von einander getrennten Perioden der italienischen
Kunst hindurchziehen, auch nur annähernd in eiuer Aufzählung zu erschöpfen;
sie für die Wissenschaft fruchtbar zu machen, wäre das Werk einer italienisch-
christlichen Kunstmythologie, die, so verdienstlich und wünschenswert!) sie wäre,
sich freilich bei der Ueberfülle an Material zunächst enge Grenzen in sachlicher
und zeitlicher Beziehung zu stecke" haben würde.

Noch in der Zeit der Renaissance durften sich, wie bemerkt, die hervor¬
ragendsten Künstler das bereits von Früheren geleistete, auch soweit es die
Gestaltung eines ganz populären Stoffes betraf, unbedenklich zu eigen macheu,
und sie thaten es mit aller Unbefangenheit, ohne im entferntesten den Vorwurf
des Plagiats befürchten zu müssen. Freilich fühlten sie sich dabei verpflichtet,
ihrerseits alles dasjenige hinzuzufügen, was die Kunstperiode, in der sie schufen,
und ihre eigene künstlerische Individualität vor deu Vorläufern, auf deren


Mythus in folgerichtiger Entwicklung einen künstlerischen Ausdruck gefunden
hatten, der nach der idealen Seite hin einer Steigerung nicht mehr fähig war,
begannen bekanntlich die künstlerischen Kräfte, dem Zuge einer neuen Zeit folgend,
auf anderen Gebieten nach Stoffen auszugehen, welche der nicht mehr aus¬
schließlich dem Erhabenen zugewandten Richtung der Mitlebenden mehr entgegen¬
kamen. Die zunehmende Subjectivität der Künstler sucht sich in Bewältigung
neuer Stoffe geltend zu machen, und auch wenn sie sich an den alten versucht,
kaun sie, indem sie die von der früheren Kunst aufgestellten Typen auf das
Mannigfaltigste umgestaltet, sich nicht verleugnen.

Dieselbe Erscheinung wird wahrnehmbar, wenn man die historische Ent¬
wicklung der christliche» Kunst, dort wo sie sich am vollständigsten überblicken
läßt, auf italienischem Boden, ins Auge faßt. Bei keinem Volke der neuerm
Zeit sind wir in der Lage, innerhalb der dem christlichen Stoffkreise angehörigen
Darstellungen eine gleiche Continuität künstlerischer Ueberlieferung zu verfolge»
wie bei dem italienischen. Wir sehen Gestalten und Begebenheiten der biblischen
Geschichte, die durch Giotto und Andere typisches Gepräge erhielten, Jahrhunderte
hindurch festgehalten und mit mehr oder weniger Modificationen noch den Dar-
stellungen der größten Meister der Renaissance als Grundlage dienen. So
kehrt z. B. dasselbe Compositionsschema, welches Simone Martini bei der
Darstellung der Annunziata zu Siena anwandte, noch bei Fra Filippo Lippi,
Andrea Sansovino, Jnnocenzo da Jmola und hundert Anderen wieder; die
Heimsuchung Mariä, wie sie Giotto zu Assisi oder in der Arena zu Padua
uns vorführt, bei Ghirlandajo, Albertinelli, Bagnaccivallo, Sebastian del Pioinbo
und zahllosen anderen Meistern. Es würde zu weit führen, die Menge biblischer
Darstellungen, die sich in derselben Weise als ein fortlaufende Kette in Aufbau
und Anordnung fast völlig gleicher Compositionen durch die verschiedensten, in
stilistischer Bezeichnung durchaus von einander getrennten Perioden der italienischen
Kunst hindurchziehen, auch nur annähernd in eiuer Aufzählung zu erschöpfen;
sie für die Wissenschaft fruchtbar zu machen, wäre das Werk einer italienisch-
christlichen Kunstmythologie, die, so verdienstlich und wünschenswert!) sie wäre,
sich freilich bei der Ueberfülle an Material zunächst enge Grenzen in sachlicher
und zeitlicher Beziehung zu stecke» haben würde.

Noch in der Zeit der Renaissance durften sich, wie bemerkt, die hervor¬
ragendsten Künstler das bereits von Früheren geleistete, auch soweit es die
Gestaltung eines ganz populären Stoffes betraf, unbedenklich zu eigen macheu,
und sie thaten es mit aller Unbefangenheit, ohne im entferntesten den Vorwurf
des Plagiats befürchten zu müssen. Freilich fühlten sie sich dabei verpflichtet,
ihrerseits alles dasjenige hinzuzufügen, was die Kunstperiode, in der sie schufen,
und ihre eigene künstlerische Individualität vor deu Vorläufern, auf deren


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[0030] Mythus in folgerichtiger Entwicklung einen künstlerischen Ausdruck gefunden hatten, der nach der idealen Seite hin einer Steigerung nicht mehr fähig war, begannen bekanntlich die künstlerischen Kräfte, dem Zuge einer neuen Zeit folgend, auf anderen Gebieten nach Stoffen auszugehen, welche der nicht mehr aus¬ schließlich dem Erhabenen zugewandten Richtung der Mitlebenden mehr entgegen¬ kamen. Die zunehmende Subjectivität der Künstler sucht sich in Bewältigung neuer Stoffe geltend zu machen, und auch wenn sie sich an den alten versucht, kaun sie, indem sie die von der früheren Kunst aufgestellten Typen auf das Mannigfaltigste umgestaltet, sich nicht verleugnen. Dieselbe Erscheinung wird wahrnehmbar, wenn man die historische Ent¬ wicklung der christliche» Kunst, dort wo sie sich am vollständigsten überblicken läßt, auf italienischem Boden, ins Auge faßt. Bei keinem Volke der neuerm Zeit sind wir in der Lage, innerhalb der dem christlichen Stoffkreise angehörigen Darstellungen eine gleiche Continuität künstlerischer Ueberlieferung zu verfolge» wie bei dem italienischen. Wir sehen Gestalten und Begebenheiten der biblischen Geschichte, die durch Giotto und Andere typisches Gepräge erhielten, Jahrhunderte hindurch festgehalten und mit mehr oder weniger Modificationen noch den Dar- stellungen der größten Meister der Renaissance als Grundlage dienen. So kehrt z. B. dasselbe Compositionsschema, welches Simone Martini bei der Darstellung der Annunziata zu Siena anwandte, noch bei Fra Filippo Lippi, Andrea Sansovino, Jnnocenzo da Jmola und hundert Anderen wieder; die Heimsuchung Mariä, wie sie Giotto zu Assisi oder in der Arena zu Padua uns vorführt, bei Ghirlandajo, Albertinelli, Bagnaccivallo, Sebastian del Pioinbo und zahllosen anderen Meistern. Es würde zu weit führen, die Menge biblischer Darstellungen, die sich in derselben Weise als ein fortlaufende Kette in Aufbau und Anordnung fast völlig gleicher Compositionen durch die verschiedensten, in stilistischer Bezeichnung durchaus von einander getrennten Perioden der italienischen Kunst hindurchziehen, auch nur annähernd in eiuer Aufzählung zu erschöpfen; sie für die Wissenschaft fruchtbar zu machen, wäre das Werk einer italienisch- christlichen Kunstmythologie, die, so verdienstlich und wünschenswert!) sie wäre, sich freilich bei der Ueberfülle an Material zunächst enge Grenzen in sachlicher und zeitlicher Beziehung zu stecke» haben würde. Noch in der Zeit der Renaissance durften sich, wie bemerkt, die hervor¬ ragendsten Künstler das bereits von Früheren geleistete, auch soweit es die Gestaltung eines ganz populären Stoffes betraf, unbedenklich zu eigen macheu, und sie thaten es mit aller Unbefangenheit, ohne im entferntesten den Vorwurf des Plagiats befürchten zu müssen. Freilich fühlten sie sich dabei verpflichtet, ihrerseits alles dasjenige hinzuzufügen, was die Kunstperiode, in der sie schufen, und ihre eigene künstlerische Individualität vor deu Vorläufern, auf deren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/30>, abgerufen am 23.07.2024.