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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Gefilden, und wenn einmal ein ernsterer Ton angeschlagen wird, so sind's Wolken¬
schatten, welche nur für Momente den Glanz verdunkeln.

In einer Zeit wie der unserigen, wo der Repräsentant der romantischen
Richtung -- zugleich das Haupt der Antiformalisten -- wie ein siegreicher
König im Triumph durch die Welt zieht und mit Ehren überhäuft wird, haben
wir nicht nöthig für diese Richtung einzutreten; im Gegentheil wird es, wenn
wir bekennen, diesen Strömungen nicht feindlich gegenüber zu stehen, fondern
uns gern selbst von ihnen mit treiben zu lassen, der ausdrücklichen Versicherung
bedürfen, daß wir dennoch das Wesen der Musik nicht in der Fähigkeit sehen,
dem Worte zu folgen und feine Bedeutung zu verstärken, d. h. also Gefühls¬
vorgänge oder gar äußere Ereignisse zu schildern, sondern vielmehr in ihren for¬
malen Principien als Kunst. Nicht das Lied, nicht die Programmsymphonie, sondern
allein die absolute Musik kann uus Aufschluß geben über das Wesen der Musik
selbst; nur in ihr wird sie frei und ungehemmt ihre Kräfte entfalten können.
Es versteht sich von selbst, daß damit kein Tadel gegen jene Mischgattungen
als solche ausgesprochen ist; nur werden wir zu der Annahme berechtigt sein,
daß die Musik, wenn sie eine Verbindung mit den Schwesterkünsten eingeht,
ihre volle Freiheit aufgiebt und gleichsam in Gütergemeinschaft mit jenen tritt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß damit die Möglichkeit gegeben ist, gelegent¬
lich großartiger und intensiver zu wirken, als die einzelne Kunst mit ihren
bescheidneren Mitteln wirken kann; dennoch wird die Leistung der einzelnen
Kunst, eben weil ihr die volle Freiheit fehlt, nicht hoch anzuschlagen sein, ja
herausgenommen aus jenem Rahmen kann sie sogar dürftig und arm erscheinen.

Die Richtigkeit dieser Ansicht wird sich ergeben, wenn wir in Kürze die
Fcictoren des specifisch musikalischen Eindrucks entwickeln, besonders aber die
Aufmerksamkeit auf das formale Element in der Musik concentriren.




Znnüchst haben wir als elementare Fcictoren zu unterscheiden die elemen¬
tare Wirkung des Rhythmus und die elementare Wirkung der Melodie. Es
ist eine bisher wohl kaum genügend beachtete Thatsache unseres Empfindens,
daß für die Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge regelmäßiger Schläge oder
Vewegungsstöße, z. B. für den Hin- und Hergang eines Pendels oder für
das Anschlagen einer Glocke, für Hämmern, Klopfen u. tgi., eine ungefähr ab¬
gegrenzte Mitte existirt, nach deren beiden Seiten hin wir nicht die Empfindung
des schnelleren und Langsameren, sondern geradezu des Schnellen und Lang¬
samer haben. In einzelnen Fällen bestimmen freilich associative Momente die
Empfindung mit; so wird ein Pendel sich schnell zu bewegen scheinen, wenn es
sich auffallend schneller bewegt als wir es von einem Pendel gewöhnt sind,


Gefilden, und wenn einmal ein ernsterer Ton angeschlagen wird, so sind's Wolken¬
schatten, welche nur für Momente den Glanz verdunkeln.

In einer Zeit wie der unserigen, wo der Repräsentant der romantischen
Richtung — zugleich das Haupt der Antiformalisten — wie ein siegreicher
König im Triumph durch die Welt zieht und mit Ehren überhäuft wird, haben
wir nicht nöthig für diese Richtung einzutreten; im Gegentheil wird es, wenn
wir bekennen, diesen Strömungen nicht feindlich gegenüber zu stehen, fondern
uns gern selbst von ihnen mit treiben zu lassen, der ausdrücklichen Versicherung
bedürfen, daß wir dennoch das Wesen der Musik nicht in der Fähigkeit sehen,
dem Worte zu folgen und feine Bedeutung zu verstärken, d. h. also Gefühls¬
vorgänge oder gar äußere Ereignisse zu schildern, sondern vielmehr in ihren for¬
malen Principien als Kunst. Nicht das Lied, nicht die Programmsymphonie, sondern
allein die absolute Musik kann uus Aufschluß geben über das Wesen der Musik
selbst; nur in ihr wird sie frei und ungehemmt ihre Kräfte entfalten können.
Es versteht sich von selbst, daß damit kein Tadel gegen jene Mischgattungen
als solche ausgesprochen ist; nur werden wir zu der Annahme berechtigt sein,
daß die Musik, wenn sie eine Verbindung mit den Schwesterkünsten eingeht,
ihre volle Freiheit aufgiebt und gleichsam in Gütergemeinschaft mit jenen tritt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß damit die Möglichkeit gegeben ist, gelegent¬
lich großartiger und intensiver zu wirken, als die einzelne Kunst mit ihren
bescheidneren Mitteln wirken kann; dennoch wird die Leistung der einzelnen
Kunst, eben weil ihr die volle Freiheit fehlt, nicht hoch anzuschlagen sein, ja
herausgenommen aus jenem Rahmen kann sie sogar dürftig und arm erscheinen.

Die Richtigkeit dieser Ansicht wird sich ergeben, wenn wir in Kürze die
Fcictoren des specifisch musikalischen Eindrucks entwickeln, besonders aber die
Aufmerksamkeit auf das formale Element in der Musik concentriren.




Znnüchst haben wir als elementare Fcictoren zu unterscheiden die elemen¬
tare Wirkung des Rhythmus und die elementare Wirkung der Melodie. Es
ist eine bisher wohl kaum genügend beachtete Thatsache unseres Empfindens,
daß für die Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge regelmäßiger Schläge oder
Vewegungsstöße, z. B. für den Hin- und Hergang eines Pendels oder für
das Anschlagen einer Glocke, für Hämmern, Klopfen u. tgi., eine ungefähr ab¬
gegrenzte Mitte existirt, nach deren beiden Seiten hin wir nicht die Empfindung
des schnelleren und Langsameren, sondern geradezu des Schnellen und Lang¬
samer haben. In einzelnen Fällen bestimmen freilich associative Momente die
Empfindung mit; so wird ein Pendel sich schnell zu bewegen scheinen, wenn es
sich auffallend schneller bewegt als wir es von einem Pendel gewöhnt sind,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/232>, abgerufen am 25.08.2024.