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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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klingt mächtig durch sein ganzes System wie ein 1^ xroviäsnvs e'sse 1s mal,
diese, die frühe Lehrpraxis, spiegelt sich in den -- man gestatte den Ausdruck --
Seminarübungen seiner Schule deutlich ab.

Eines Tages dictirte -- so geht die Sage -- der Vater den Schulknaben,
unter denen heute Epikur selber saß, folgende Verse des Hestod:


Anfangs herrschte das Chaos; das Chaos aber erzeugte
Dunst und die dunkele Nacht; und die Nacht, sie erzeugte den Aether
Und den Tag,

"Woher entstand aber das Chaos?" unterbrach Epikur lebhaft den Vater. Mit
einem "Das gehört nicht hierher" kam dieser über die verfängliche Frage hin¬
weg. Von dieser Stunde an suchte Epikur alle Elementarlehrer und So¬
phisten in Samos mit seiner Frage heim, und als ihm niemand Auskunft
geben konnte, schmähte er wie ein Alter auf alle Schulmeister und Advocaten,
und sein Entschluß, zur Fahne der Philosophie zu schwören, war gefaßt.
Zwar stand seine allgemeine Bildung, soweit sie damals durch rhetorische,
musikalische, mathematische und andere Studien gewonnen wurde, auf dem
Gefrierpunkt, und: "Ich kann schwimmen und kenne die Buchstaben" -- das
war die einzige Waffe, mit der er sich gegen den Vorwurf der Ungebildetheit
schützen konnte. Aber natürlicher Verstand und eine bedeutende Unmittelbarkeit
der Empfindung scheinen bei ihm jene allgemeine Bildung, insofern sie als Vor¬
stufe philosophischer Denkarbeit zu betrachten ist, reichlich ersetzt zu haben. Von
dem Besitz dieser Naturgaben war den" auch der Mann Epikur sehr überzeugt,
und obwohl es nicht zu bezweifeln ist, daß er in seiner Jugend auf Samos
philosophischen Unterricht genossen hatte, wollte er doch immer als Autodidakt
gelte". Nach seiner eigenen Aussage studirte er die Werke des Anaxagoras, des be¬
rühmten, wegen Atheismus von den Athenern vertriebenen Freundes des Perikles,
sowie die des "lachenden" Pilosophen Demokrit, jenes bekannten Schöpfers des
physikalischen Materialismus, auf welchen nach den neuesten Forschungen "all
die Fülle des Wissens zurückzuführen ist, die wir an Aristoteles in so hohem
Grade bewundern". Auch wandte er seine Aufmerksamkeit dem System Aristipps
zu, welcher den Genuß sür den Zweck des Daseins erklärte, nicht ohne zu be¬
tonen -- und das hatte er bei Sokrates gelernt --, daß Selbstbeherrschung
und Besonnenheit allein genußfähig machen. Zu Anaxagoras zog Epikur seiue
Abneigung gegen den Aberglauben, dessen verheerende Einwirkung auf das
menschliche Dasein er als Knabe schon kennen gelernt hatte, Demokrits Atomi¬
stik aber und Aristipps die Sinnenempfindung als vollwerthig und vollwichtig
anerkennende Lustlehre lieferten ihm bedeutsame Bausteine für sein philosophi¬
sches System, welches, um mit dem Aberglauben gründlich aufzuräumen und
das Individuum auf sich selbst zu stellen, die Gottheit aus der Natur und aus


klingt mächtig durch sein ganzes System wie ein 1^ xroviäsnvs e'sse 1s mal,
diese, die frühe Lehrpraxis, spiegelt sich in den — man gestatte den Ausdruck —
Seminarübungen seiner Schule deutlich ab.

Eines Tages dictirte — so geht die Sage — der Vater den Schulknaben,
unter denen heute Epikur selber saß, folgende Verse des Hestod:


Anfangs herrschte das Chaos; das Chaos aber erzeugte
Dunst und die dunkele Nacht; und die Nacht, sie erzeugte den Aether
Und den Tag,

„Woher entstand aber das Chaos?" unterbrach Epikur lebhaft den Vater. Mit
einem „Das gehört nicht hierher" kam dieser über die verfängliche Frage hin¬
weg. Von dieser Stunde an suchte Epikur alle Elementarlehrer und So¬
phisten in Samos mit seiner Frage heim, und als ihm niemand Auskunft
geben konnte, schmähte er wie ein Alter auf alle Schulmeister und Advocaten,
und sein Entschluß, zur Fahne der Philosophie zu schwören, war gefaßt.
Zwar stand seine allgemeine Bildung, soweit sie damals durch rhetorische,
musikalische, mathematische und andere Studien gewonnen wurde, auf dem
Gefrierpunkt, und: „Ich kann schwimmen und kenne die Buchstaben" — das
war die einzige Waffe, mit der er sich gegen den Vorwurf der Ungebildetheit
schützen konnte. Aber natürlicher Verstand und eine bedeutende Unmittelbarkeit
der Empfindung scheinen bei ihm jene allgemeine Bildung, insofern sie als Vor¬
stufe philosophischer Denkarbeit zu betrachten ist, reichlich ersetzt zu haben. Von
dem Besitz dieser Naturgaben war den» auch der Mann Epikur sehr überzeugt,
und obwohl es nicht zu bezweifeln ist, daß er in seiner Jugend auf Samos
philosophischen Unterricht genossen hatte, wollte er doch immer als Autodidakt
gelte». Nach seiner eigenen Aussage studirte er die Werke des Anaxagoras, des be¬
rühmten, wegen Atheismus von den Athenern vertriebenen Freundes des Perikles,
sowie die des „lachenden" Pilosophen Demokrit, jenes bekannten Schöpfers des
physikalischen Materialismus, auf welchen nach den neuesten Forschungen „all
die Fülle des Wissens zurückzuführen ist, die wir an Aristoteles in so hohem
Grade bewundern". Auch wandte er seine Aufmerksamkeit dem System Aristipps
zu, welcher den Genuß sür den Zweck des Daseins erklärte, nicht ohne zu be¬
tonen — und das hatte er bei Sokrates gelernt —, daß Selbstbeherrschung
und Besonnenheit allein genußfähig machen. Zu Anaxagoras zog Epikur seiue
Abneigung gegen den Aberglauben, dessen verheerende Einwirkung auf das
menschliche Dasein er als Knabe schon kennen gelernt hatte, Demokrits Atomi¬
stik aber und Aristipps die Sinnenempfindung als vollwerthig und vollwichtig
anerkennende Lustlehre lieferten ihm bedeutsame Bausteine für sein philosophi¬
sches System, welches, um mit dem Aberglauben gründlich aufzuräumen und
das Individuum auf sich selbst zu stellen, die Gottheit aus der Natur und aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/20>, abgerufen am 25.08.2024.