Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht die heiße Liebe, in der er zu der Schönen entbrannt war. Da kam ein
Sclave auf ihn zugeeilt und brachte ihm einen Brief von seinem Herzensfreunde
Horaz, der sich damals auf seinem nur wenige Stunden nordnordöstlich von
Prüneste gelegenen Sabinum aufhielt. Begierig zerschnitt Tibull das Band der
Brieftafelu, und auf dem Wachs der Innenseite standen die Worte: "Horaz
entbietet seinem Busenfreunde Tibull herzlichen Gruß. Wie ich höre, hast du
seit einiger Zeit einer dunkeln Stimmung dich hingegeben. Wahrlich, das hast
du nicht nöthig: wem die Götter solchen Dichterrnhm, solche persönliche Be¬
liebtheit, so schöne Gestalt, so felsenfeste Gesundheit, eine so mit Denaren ge¬
füllte Kasse verliehen haben und das richtige Verständniß des Lebensgenusses
nicht versagt haben, der darf sein Herz nicht einer grämlichen Stimmung offnen.
Fort mit der Sorge! Genieße den Tag und was er bringt, als wenn er der
letzte deines Lebens wäre; um so freudiger wirst du jeden weiteren in deinem
Geschäftsbuche unter "Eingelaufen" registriren. Ich wenigstens fühle mich durch
solche Lebensanschauung gehoben; und nicht bloß meine Seele und mein Herz
dehnt sich und gedeiht, frei von aller Beklemmung, sondern auch mein Leib:
du würdest staunen, wenn du -- und das bitte ich dich recht bald zu thun
zu mir kämest, wie ich von Feistigkeit strotze, ein Ferkel aus der Herde
des Epikur."

Epikur! Der Name erscheint für den Gesichtskreis der Durchschnitts-
bildung unserer Zeit als die antike Coulisse, hinter welcher alle Genußsüchtigen
auf diesem Welttheater ihrem Genius Opfer bringen. "Ist er Epikureer?" "O
nein, er ißt und trinkt sehr wenig." Diese Worte aus einem die Jahreszahl
1878 tragenden Roman enthalten die Grundform der Vorstellung, welche man
im 19. Jahrhundert allen Ernstes noch vielfach von Epikur und Epikureismus
hat, in geringer Abweichung von dem nicht eben bezaubernden Bildniß, wie es
Horaz am Schlüsse des eben mitgetheilten Briefes mit einem etwas derbe"
Alfrescostrich hingeworfen. Beide -- Meister und Schule -- in einem günstigeren,
der Wahrheit entsprechenderen Lichte zu zeigen, ist der Zweck der folgenden
Zeilen. Damit aber der Leser eine nachhaltigere Einsicht in das Wesen des
Epikureismus gewinne, so soll in unserem Versuche die erörternde Darstellung
mit einer Art malender Stilgattung versetzt werden, durch die wir den Leser un¬
mittelbar in die -- wie wir schon jetzt versichern können -- höchst anständige
Gesellschaft der Epikureer einführen und ihm Gelegenheit geben wollen, gleichsam
mit eigeuen Augen und Ohren von dein Thun und Lassen der Vielgelüsterten
sich zu überzeugen. Wenige, ganz nebensächliche Punkte der Staffage abgerechnet,
beruhen alle Einzelheiten der nachfolgenden "lebenden Bilder" auf historischer
Ueberlieferung.


nicht die heiße Liebe, in der er zu der Schönen entbrannt war. Da kam ein
Sclave auf ihn zugeeilt und brachte ihm einen Brief von seinem Herzensfreunde
Horaz, der sich damals auf seinem nur wenige Stunden nordnordöstlich von
Prüneste gelegenen Sabinum aufhielt. Begierig zerschnitt Tibull das Band der
Brieftafelu, und auf dem Wachs der Innenseite standen die Worte: „Horaz
entbietet seinem Busenfreunde Tibull herzlichen Gruß. Wie ich höre, hast du
seit einiger Zeit einer dunkeln Stimmung dich hingegeben. Wahrlich, das hast
du nicht nöthig: wem die Götter solchen Dichterrnhm, solche persönliche Be¬
liebtheit, so schöne Gestalt, so felsenfeste Gesundheit, eine so mit Denaren ge¬
füllte Kasse verliehen haben und das richtige Verständniß des Lebensgenusses
nicht versagt haben, der darf sein Herz nicht einer grämlichen Stimmung offnen.
Fort mit der Sorge! Genieße den Tag und was er bringt, als wenn er der
letzte deines Lebens wäre; um so freudiger wirst du jeden weiteren in deinem
Geschäftsbuche unter „Eingelaufen" registriren. Ich wenigstens fühle mich durch
solche Lebensanschauung gehoben; und nicht bloß meine Seele und mein Herz
dehnt sich und gedeiht, frei von aller Beklemmung, sondern auch mein Leib:
du würdest staunen, wenn du — und das bitte ich dich recht bald zu thun
zu mir kämest, wie ich von Feistigkeit strotze, ein Ferkel aus der Herde
des Epikur."

Epikur! Der Name erscheint für den Gesichtskreis der Durchschnitts-
bildung unserer Zeit als die antike Coulisse, hinter welcher alle Genußsüchtigen
auf diesem Welttheater ihrem Genius Opfer bringen. „Ist er Epikureer?" „O
nein, er ißt und trinkt sehr wenig." Diese Worte aus einem die Jahreszahl
1878 tragenden Roman enthalten die Grundform der Vorstellung, welche man
im 19. Jahrhundert allen Ernstes noch vielfach von Epikur und Epikureismus
hat, in geringer Abweichung von dem nicht eben bezaubernden Bildniß, wie es
Horaz am Schlüsse des eben mitgetheilten Briefes mit einem etwas derbe»
Alfrescostrich hingeworfen. Beide — Meister und Schule — in einem günstigeren,
der Wahrheit entsprechenderen Lichte zu zeigen, ist der Zweck der folgenden
Zeilen. Damit aber der Leser eine nachhaltigere Einsicht in das Wesen des
Epikureismus gewinne, so soll in unserem Versuche die erörternde Darstellung
mit einer Art malender Stilgattung versetzt werden, durch die wir den Leser un¬
mittelbar in die — wie wir schon jetzt versichern können — höchst anständige
Gesellschaft der Epikureer einführen und ihm Gelegenheit geben wollen, gleichsam
mit eigeuen Augen und Ohren von dein Thun und Lassen der Vielgelüsterten
sich zu überzeugen. Wenige, ganz nebensächliche Punkte der Staffage abgerechnet,
beruhen alle Einzelheiten der nachfolgenden „lebenden Bilder" auf historischer
Ueberlieferung.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147105"/>
          <p xml:id="ID_34" prev="#ID_33"> nicht die heiße Liebe, in der er zu der Schönen entbrannt war. Da kam ein<lb/>
Sclave auf ihn zugeeilt und brachte ihm einen Brief von seinem Herzensfreunde<lb/>
Horaz, der sich damals auf seinem nur wenige Stunden nordnordöstlich von<lb/>
Prüneste gelegenen Sabinum aufhielt. Begierig zerschnitt Tibull das Band der<lb/>
Brieftafelu, und auf dem Wachs der Innenseite standen die Worte: &#x201E;Horaz<lb/>
entbietet seinem Busenfreunde Tibull herzlichen Gruß. Wie ich höre, hast du<lb/>
seit einiger Zeit einer dunkeln Stimmung dich hingegeben. Wahrlich, das hast<lb/>
du nicht nöthig: wem die Götter solchen Dichterrnhm, solche persönliche Be¬<lb/>
liebtheit, so schöne Gestalt, so felsenfeste Gesundheit, eine so mit Denaren ge¬<lb/>
füllte Kasse verliehen haben und das richtige Verständniß des Lebensgenusses<lb/>
nicht versagt haben, der darf sein Herz nicht einer grämlichen Stimmung offnen.<lb/>
Fort mit der Sorge! Genieße den Tag und was er bringt, als wenn er der<lb/>
letzte deines Lebens wäre; um so freudiger wirst du jeden weiteren in deinem<lb/>
Geschäftsbuche unter &#x201E;Eingelaufen" registriren. Ich wenigstens fühle mich durch<lb/>
solche Lebensanschauung gehoben; und nicht bloß meine Seele und mein Herz<lb/>
dehnt sich und gedeiht, frei von aller Beklemmung, sondern auch mein Leib:<lb/>
du würdest staunen, wenn du &#x2014; und das bitte ich dich recht bald zu thun<lb/>
zu mir kämest, wie ich von Feistigkeit strotze, ein Ferkel aus der Herde<lb/>
des Epikur."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_35"> Epikur! Der Name erscheint für den Gesichtskreis der Durchschnitts-<lb/>
bildung unserer Zeit als die antike Coulisse, hinter welcher alle Genußsüchtigen<lb/>
auf diesem Welttheater ihrem Genius Opfer bringen. &#x201E;Ist er Epikureer?" &#x201E;O<lb/>
nein, er ißt und trinkt sehr wenig." Diese Worte aus einem die Jahreszahl<lb/>
1878 tragenden Roman enthalten die Grundform der Vorstellung, welche man<lb/>
im 19. Jahrhundert allen Ernstes noch vielfach von Epikur und Epikureismus<lb/>
hat, in geringer Abweichung von dem nicht eben bezaubernden Bildniß, wie es<lb/>
Horaz am Schlüsse des eben mitgetheilten Briefes mit einem etwas derbe»<lb/>
Alfrescostrich hingeworfen. Beide &#x2014; Meister und Schule &#x2014; in einem günstigeren,<lb/>
der Wahrheit entsprechenderen Lichte zu zeigen, ist der Zweck der folgenden<lb/>
Zeilen. Damit aber der Leser eine nachhaltigere Einsicht in das Wesen des<lb/>
Epikureismus gewinne, so soll in unserem Versuche die erörternde Darstellung<lb/>
mit einer Art malender Stilgattung versetzt werden, durch die wir den Leser un¬<lb/>
mittelbar in die &#x2014; wie wir schon jetzt versichern können &#x2014; höchst anständige<lb/>
Gesellschaft der Epikureer einführen und ihm Gelegenheit geben wollen, gleichsam<lb/>
mit eigeuen Augen und Ohren von dein Thun und Lassen der Vielgelüsterten<lb/>
sich zu überzeugen. Wenige, ganz nebensächliche Punkte der Staffage abgerechnet,<lb/>
beruhen alle Einzelheiten der nachfolgenden &#x201E;lebenden Bilder" auf historischer<lb/>
Ueberlieferung.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] nicht die heiße Liebe, in der er zu der Schönen entbrannt war. Da kam ein Sclave auf ihn zugeeilt und brachte ihm einen Brief von seinem Herzensfreunde Horaz, der sich damals auf seinem nur wenige Stunden nordnordöstlich von Prüneste gelegenen Sabinum aufhielt. Begierig zerschnitt Tibull das Band der Brieftafelu, und auf dem Wachs der Innenseite standen die Worte: „Horaz entbietet seinem Busenfreunde Tibull herzlichen Gruß. Wie ich höre, hast du seit einiger Zeit einer dunkeln Stimmung dich hingegeben. Wahrlich, das hast du nicht nöthig: wem die Götter solchen Dichterrnhm, solche persönliche Be¬ liebtheit, so schöne Gestalt, so felsenfeste Gesundheit, eine so mit Denaren ge¬ füllte Kasse verliehen haben und das richtige Verständniß des Lebensgenusses nicht versagt haben, der darf sein Herz nicht einer grämlichen Stimmung offnen. Fort mit der Sorge! Genieße den Tag und was er bringt, als wenn er der letzte deines Lebens wäre; um so freudiger wirst du jeden weiteren in deinem Geschäftsbuche unter „Eingelaufen" registriren. Ich wenigstens fühle mich durch solche Lebensanschauung gehoben; und nicht bloß meine Seele und mein Herz dehnt sich und gedeiht, frei von aller Beklemmung, sondern auch mein Leib: du würdest staunen, wenn du — und das bitte ich dich recht bald zu thun zu mir kämest, wie ich von Feistigkeit strotze, ein Ferkel aus der Herde des Epikur." Epikur! Der Name erscheint für den Gesichtskreis der Durchschnitts- bildung unserer Zeit als die antike Coulisse, hinter welcher alle Genußsüchtigen auf diesem Welttheater ihrem Genius Opfer bringen. „Ist er Epikureer?" „O nein, er ißt und trinkt sehr wenig." Diese Worte aus einem die Jahreszahl 1878 tragenden Roman enthalten die Grundform der Vorstellung, welche man im 19. Jahrhundert allen Ernstes noch vielfach von Epikur und Epikureismus hat, in geringer Abweichung von dem nicht eben bezaubernden Bildniß, wie es Horaz am Schlüsse des eben mitgetheilten Briefes mit einem etwas derbe» Alfrescostrich hingeworfen. Beide — Meister und Schule — in einem günstigeren, der Wahrheit entsprechenderen Lichte zu zeigen, ist der Zweck der folgenden Zeilen. Damit aber der Leser eine nachhaltigere Einsicht in das Wesen des Epikureismus gewinne, so soll in unserem Versuche die erörternde Darstellung mit einer Art malender Stilgattung versetzt werden, durch die wir den Leser un¬ mittelbar in die — wie wir schon jetzt versichern können — höchst anständige Gesellschaft der Epikureer einführen und ihm Gelegenheit geben wollen, gleichsam mit eigeuen Augen und Ohren von dein Thun und Lassen der Vielgelüsterten sich zu überzeugen. Wenige, ganz nebensächliche Punkte der Staffage abgerechnet, beruhen alle Einzelheiten der nachfolgenden „lebenden Bilder" auf historischer Ueberlieferung.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/18>, abgerufen am 06.01.2025.