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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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dieser Briefwechsel sei höchst liederlich herausgegeben, jener von einem Manne
in die Welt geschickt, "der weder deutsch schreibe noch deutsch denke"? Als ob
es sich nicht vielmehr darum gehandelt hätte, die gute alte Tradition, die nach
Goethes Tode immer gegolten, nicht aussterben zu lassen, jede Ausgabe der
Werke mit möglichst verschlechterten Text in die Welt zu schicken. Ja, Du lieber
Gott, wirft man ein, die Schillersche Familie ist doch ganz anders verfahren!
Hat denn aber Goethe nicht selbst einmal gesagt, er wisse sehr wohl, daß seine
Werke nun und nimmermehr populär werden könnten? Und da es so steht,
wozu kritische Ausgaben? Für's Volk sind sie Ccwiar, und die Gebildeten
unserer Nation haben sich ja so lange nicht an den schlechten Text gestoßen,
daß sie wohl auch in der Zukunft es nicht thun werden. Ostsrnro. c^Qsso --
wir sollen den Goethescher Erben recht dankbar sein, auch dann recht dankbar,
wenn das jetzt colportirte Gerücht, daß der Mann, "der weder deutsch denkt
noch schreibt", nach Weimar übersiedeln und aus dem Goethe-Archiv umfängliche
Werke herausgeben soll, wirklich wahr ist. Dankbar müssen wir den Herren
Enkeln Goethes auch sein, daß sie das Archiv dem Herausgeber vorliegenden
Briefwechsels erschlossen haben. Die Welt schreit darob: Wunder! Wunder!
Der alte Heide aber, der in jenem Hause einst gewohnt, hat die Wunder nie
recht leiden können, und meinte einmal in vollem Ernst: "Geheimnisse sind noch
keine Wunder."

Noch eine Frage zu guter letzt. Hat Herr Professor Kuno Fischer viel¬
leicht des Freiherr" von Biedermann treffliche Goethe-Forschungen gelesen? Ist
ihm nicht, was dort auf S. 358 über die Pflichte" und Aufgaben eines Her¬
ausgebers vou Goethebriefeu steht, in die Augen gefallen? Wohl kaum. Denn
Anmerkungen zu den Briefen -- und wie nöthig wären dieselben gewesen --
sowie ein Register u. tgi. in. fehlen der vorliegenden Sammlung vollständig.
Ein Herausgeber Goethescher Briefe aber -- das können wir heute verlange" --
muß das ganze ihm zu Gebote stehende Material beherrsche". So steht z. B.
in "Sulpiz Boisseree" Band II. S. 449 ein Auszug aus einem am 27. October
1826 vou Göttling an Goethe über die "Helena" gerichteten Brief, der hier
erneuten Abdruck verdient hätte. Noch manche andere Unterlassungssünde wäre
beizubringen, und die Männer, die wir als Führer in der Goethe-Forschung
verehren, werden vielleicht in die Versuchung kommen, ihres Richteramtes strenge
zu walten. Oder sollte ihnen gegenüber Herr Kuno Fischer vielleicht daran
gedacht haben, daß Lessing einmal gesagt hat: "Ich will es nicht vergessen,
daß der vollkommenste Leser auch zugleich der gutherzigste ist."?


-- wa --


dieser Briefwechsel sei höchst liederlich herausgegeben, jener von einem Manne
in die Welt geschickt, „der weder deutsch schreibe noch deutsch denke"? Als ob
es sich nicht vielmehr darum gehandelt hätte, die gute alte Tradition, die nach
Goethes Tode immer gegolten, nicht aussterben zu lassen, jede Ausgabe der
Werke mit möglichst verschlechterten Text in die Welt zu schicken. Ja, Du lieber
Gott, wirft man ein, die Schillersche Familie ist doch ganz anders verfahren!
Hat denn aber Goethe nicht selbst einmal gesagt, er wisse sehr wohl, daß seine
Werke nun und nimmermehr populär werden könnten? Und da es so steht,
wozu kritische Ausgaben? Für's Volk sind sie Ccwiar, und die Gebildeten
unserer Nation haben sich ja so lange nicht an den schlechten Text gestoßen,
daß sie wohl auch in der Zukunft es nicht thun werden. Ostsrnro. c^Qsso —
wir sollen den Goethescher Erben recht dankbar sein, auch dann recht dankbar,
wenn das jetzt colportirte Gerücht, daß der Mann, „der weder deutsch denkt
noch schreibt", nach Weimar übersiedeln und aus dem Goethe-Archiv umfängliche
Werke herausgeben soll, wirklich wahr ist. Dankbar müssen wir den Herren
Enkeln Goethes auch sein, daß sie das Archiv dem Herausgeber vorliegenden
Briefwechsels erschlossen haben. Die Welt schreit darob: Wunder! Wunder!
Der alte Heide aber, der in jenem Hause einst gewohnt, hat die Wunder nie
recht leiden können, und meinte einmal in vollem Ernst: „Geheimnisse sind noch
keine Wunder."

Noch eine Frage zu guter letzt. Hat Herr Professor Kuno Fischer viel¬
leicht des Freiherr» von Biedermann treffliche Goethe-Forschungen gelesen? Ist
ihm nicht, was dort auf S. 358 über die Pflichte» und Aufgaben eines Her¬
ausgebers vou Goethebriefeu steht, in die Augen gefallen? Wohl kaum. Denn
Anmerkungen zu den Briefen — und wie nöthig wären dieselben gewesen —
sowie ein Register u. tgi. in. fehlen der vorliegenden Sammlung vollständig.
Ein Herausgeber Goethescher Briefe aber — das können wir heute verlange» —
muß das ganze ihm zu Gebote stehende Material beherrsche». So steht z. B.
in „Sulpiz Boisseree" Band II. S. 449 ein Auszug aus einem am 27. October
1826 vou Göttling an Goethe über die „Helena" gerichteten Brief, der hier
erneuten Abdruck verdient hätte. Noch manche andere Unterlassungssünde wäre
beizubringen, und die Männer, die wir als Führer in der Goethe-Forschung
verehren, werden vielleicht in die Versuchung kommen, ihres Richteramtes strenge
zu walten. Oder sollte ihnen gegenüber Herr Kuno Fischer vielleicht daran
gedacht haben, daß Lessing einmal gesagt hat: „Ich will es nicht vergessen,
daß der vollkommenste Leser auch zugleich der gutherzigste ist."?


— wa —


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[0125] dieser Briefwechsel sei höchst liederlich herausgegeben, jener von einem Manne in die Welt geschickt, „der weder deutsch schreibe noch deutsch denke"? Als ob es sich nicht vielmehr darum gehandelt hätte, die gute alte Tradition, die nach Goethes Tode immer gegolten, nicht aussterben zu lassen, jede Ausgabe der Werke mit möglichst verschlechterten Text in die Welt zu schicken. Ja, Du lieber Gott, wirft man ein, die Schillersche Familie ist doch ganz anders verfahren! Hat denn aber Goethe nicht selbst einmal gesagt, er wisse sehr wohl, daß seine Werke nun und nimmermehr populär werden könnten? Und da es so steht, wozu kritische Ausgaben? Für's Volk sind sie Ccwiar, und die Gebildeten unserer Nation haben sich ja so lange nicht an den schlechten Text gestoßen, daß sie wohl auch in der Zukunft es nicht thun werden. Ostsrnro. c^Qsso — wir sollen den Goethescher Erben recht dankbar sein, auch dann recht dankbar, wenn das jetzt colportirte Gerücht, daß der Mann, „der weder deutsch denkt noch schreibt", nach Weimar übersiedeln und aus dem Goethe-Archiv umfängliche Werke herausgeben soll, wirklich wahr ist. Dankbar müssen wir den Herren Enkeln Goethes auch sein, daß sie das Archiv dem Herausgeber vorliegenden Briefwechsels erschlossen haben. Die Welt schreit darob: Wunder! Wunder! Der alte Heide aber, der in jenem Hause einst gewohnt, hat die Wunder nie recht leiden können, und meinte einmal in vollem Ernst: „Geheimnisse sind noch keine Wunder." Noch eine Frage zu guter letzt. Hat Herr Professor Kuno Fischer viel¬ leicht des Freiherr» von Biedermann treffliche Goethe-Forschungen gelesen? Ist ihm nicht, was dort auf S. 358 über die Pflichte» und Aufgaben eines Her¬ ausgebers vou Goethebriefeu steht, in die Augen gefallen? Wohl kaum. Denn Anmerkungen zu den Briefen — und wie nöthig wären dieselben gewesen — sowie ein Register u. tgi. in. fehlen der vorliegenden Sammlung vollständig. Ein Herausgeber Goethescher Briefe aber — das können wir heute verlange» — muß das ganze ihm zu Gebote stehende Material beherrsche». So steht z. B. in „Sulpiz Boisseree" Band II. S. 449 ein Auszug aus einem am 27. October 1826 vou Göttling an Goethe über die „Helena" gerichteten Brief, der hier erneuten Abdruck verdient hätte. Noch manche andere Unterlassungssünde wäre beizubringen, und die Männer, die wir als Führer in der Goethe-Forschung verehren, werden vielleicht in die Versuchung kommen, ihres Richteramtes strenge zu walten. Oder sollte ihnen gegenüber Herr Kuno Fischer vielleicht daran gedacht haben, daß Lessing einmal gesagt hat: „Ich will es nicht vergessen, daß der vollkommenste Leser auch zugleich der gutherzigste ist."? — wa —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/125>, abgerufen am 23.07.2024.