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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Mastricht wartete nur auf ein Zeichen, um seine Thore zu öffnen. Das Bom¬
bardement hielt die Belgier wirklich auf, aber es vernichtete auch die letzten
Hoffnungen, die das Haus Nassau hegen konnte. Die Sache des Prinzen
von Oranien war definitiv verloren.

Das belgische Centralcomitc entledigte sich nunmehr der Pflicht, eine Ver¬
fassung zu schaffen. Zu sehr von Petitionen und Deputationen aus allen Theilen
des Landes in Anspruch genommen, um selbst ans Werk gehen zu können, be¬
auftragte es damit eine Commission, die sofort ihre Arbeit begann, und erließ
dann eine Verordnung über den Wahlmodus für den Nationalcongreß, wobei
man eine große Neuerung, die directe Wahl, einführte und die Zahl der Depu¬
taten ans 200 festsetzte. Die Wahlen fanden am 27. October statt, und am
3. November eröffnete der Congreß seine Sitzungen.

Wir beabsichtigten hier lediglich die Anfänge des neuen belgischen Staates
zu schildern und bitten die Leser, uns zu gestatten, daß wir sie in Betreff des
Weiteren auf die Schrift Justes selbst verweisen, die ein sehr lebendiges, breit
ausgeführtes und lehrreiches Bild von den Verhandlungen des Nationcilevngresses
giebt, welcher die Krisis zum Abschlüsse brachte.

"Drei Grundthatsachen beherrschen und charakterisiren die Geschichte des
belgischen Nationalcongresses. Dieselben sind: Die Wiederaufrichtung der bel¬
gischen Nationalität, die Berufung einer Dynastie, welche eine Hüterin der wieder¬
gewonnenen Unabhängigkeit sein sollte und dies in Folge der getroffenen Wahl
wirklich wurde, lind die Schöpfung einer demokratischen Monarchie ohne Bei¬
spiel in Europa." So sagt Juste; wir fügen hinzu: einer demokratischen Mo¬
narchie, die in einem großen Staate unmöglich ist und auch in einem kleinen
nicht praktisch sein würde, der sich nicht wie Belgien des Glückes erfreute durch
seine Neutralität vor Angriffe" der mächtigeren Nachbarn geschützt zu sein, zu
schweigen von den soliden Eigenschaften, welche die Belgier auszeichnen.

"Mitten in der höchsten Aufregung gewählt," schreibt Conscience gegen
den Schluß seiner Geschichte Belgiens, "bewies der Congreß eine Mäßigung, die
sich theils aus dem Volkscharakter, theils aus französischen Einwirkungen er¬
klärt, indem Ludwig Philipp den Belgiern seine Hilfe nur unter der Bedingung
zugesagt hatte, daß sie die Grundlagen einer festen Ordnung legten. Diese
Bedingung und ebenso sehr ein verständiger nüchterner Sinn, wie er im Con-
gresse die Oberhand gewann und behielt, bewogen die Versammlung, de Potters
Vorschlag, sich für die Errichtung einer Republik auszusprechen, mit starker
Mehrheit ablehnend, Belgien als verfassungsmäßig regierte Monarchie zu con-
stituiren, sich für das Zweikammersystem und einen Census bei den Wahlen zu
entscheiden, der Krone die nöthigen Gewalten einzuräumen und Grundrechte zu
gewähren, die in Selbstverwaltung der Gemeinden und Provinzen, Sicherheit


Mastricht wartete nur auf ein Zeichen, um seine Thore zu öffnen. Das Bom¬
bardement hielt die Belgier wirklich auf, aber es vernichtete auch die letzten
Hoffnungen, die das Haus Nassau hegen konnte. Die Sache des Prinzen
von Oranien war definitiv verloren.

Das belgische Centralcomitc entledigte sich nunmehr der Pflicht, eine Ver¬
fassung zu schaffen. Zu sehr von Petitionen und Deputationen aus allen Theilen
des Landes in Anspruch genommen, um selbst ans Werk gehen zu können, be¬
auftragte es damit eine Commission, die sofort ihre Arbeit begann, und erließ
dann eine Verordnung über den Wahlmodus für den Nationalcongreß, wobei
man eine große Neuerung, die directe Wahl, einführte und die Zahl der Depu¬
taten ans 200 festsetzte. Die Wahlen fanden am 27. October statt, und am
3. November eröffnete der Congreß seine Sitzungen.

Wir beabsichtigten hier lediglich die Anfänge des neuen belgischen Staates
zu schildern und bitten die Leser, uns zu gestatten, daß wir sie in Betreff des
Weiteren auf die Schrift Justes selbst verweisen, die ein sehr lebendiges, breit
ausgeführtes und lehrreiches Bild von den Verhandlungen des Nationcilevngresses
giebt, welcher die Krisis zum Abschlüsse brachte.

„Drei Grundthatsachen beherrschen und charakterisiren die Geschichte des
belgischen Nationalcongresses. Dieselben sind: Die Wiederaufrichtung der bel¬
gischen Nationalität, die Berufung einer Dynastie, welche eine Hüterin der wieder¬
gewonnenen Unabhängigkeit sein sollte und dies in Folge der getroffenen Wahl
wirklich wurde, lind die Schöpfung einer demokratischen Monarchie ohne Bei¬
spiel in Europa." So sagt Juste; wir fügen hinzu: einer demokratischen Mo¬
narchie, die in einem großen Staate unmöglich ist und auch in einem kleinen
nicht praktisch sein würde, der sich nicht wie Belgien des Glückes erfreute durch
seine Neutralität vor Angriffe« der mächtigeren Nachbarn geschützt zu sein, zu
schweigen von den soliden Eigenschaften, welche die Belgier auszeichnen.

„Mitten in der höchsten Aufregung gewählt," schreibt Conscience gegen
den Schluß seiner Geschichte Belgiens, „bewies der Congreß eine Mäßigung, die
sich theils aus dem Volkscharakter, theils aus französischen Einwirkungen er¬
klärt, indem Ludwig Philipp den Belgiern seine Hilfe nur unter der Bedingung
zugesagt hatte, daß sie die Grundlagen einer festen Ordnung legten. Diese
Bedingung und ebenso sehr ein verständiger nüchterner Sinn, wie er im Con-
gresse die Oberhand gewann und behielt, bewogen die Versammlung, de Potters
Vorschlag, sich für die Errichtung einer Republik auszusprechen, mit starker
Mehrheit ablehnend, Belgien als verfassungsmäßig regierte Monarchie zu con-
stituiren, sich für das Zweikammersystem und einen Census bei den Wahlen zu
entscheiden, der Krone die nöthigen Gewalten einzuräumen und Grundrechte zu
gewähren, die in Selbstverwaltung der Gemeinden und Provinzen, Sicherheit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/108>, abgerufen am 23.07.2024.