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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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so wäre der Sinn des Materialismus verfehlt. Derselbe behauptet vielmehr,
daß dieselbe Richtung, die das Körperliche erzeuge, damit auch das Geistige
hervorbringe. Das Geistige ist nicht das Ergebniß einer auf dasselbe gerich¬
teten, auf dasselbe es absehenden, also wesentlich, potenziell, geistigen Richtung,
sondern das zufällige Nebenerzeugniß einer ausschließlich körperlichen Bewegung
-- das ist der Sinn des Materialismus. Und darin liegt es, daß wir nicht
bloß vom wissenschaftlichen, sondern auch vom ethischen Standpunkte aus, und
von ihm aus vor allem, Protest gegen den Materialismus erheben. Die un¬
sichtbare Welt, deren Dasein er anerkennt, hat weder ein eigenes Sein noch
eigenen Inhalt. Das Erzeugniß körperlicher Vorgänge, schwankt sie stetig zwi¬
schen Sein und Nichtsein, vom Eintreten jener ist ihr Sein überhaupt, von der
Art des Eintretens Kraft oder Schwäche desselben bedingt. Die unsichtbare
Welt ist hier nur ein Schein, der die körperlichen Bewegungen begleitet und je
nach der Zusammensetzung und Richtung dieser bald matter bald Heller leuchtet.
Und dem Inhalte der unsichtbaren Welt, dem Inhalte unseres geistigen Lebens,
welcher Werth kommt ihm hierzu? Welchen Anspruch aus Vertrauen kann unser
Denken erheben, welche Theilnahme Schmerz und Freude fordern, welche Achtung
sittliches Streben, wenn alles dies nur Spiegelungen körperlicher Veränderungen
sind! Und wie unbegründet ist unsere Entrüstung über Grausamkeit und Ver¬
worfenheit des Verbrechers, wie thöricht die Erziehung unserer Kinder, wenn
es nicht eine unsichtbare Welt giebt, der ein eigenes Sein und ein eigenes Gesetz
des Wirkens zukommt, wenn alles, was uns als sittlich schlecht erscheint, nur die
Frucht körperlicher Störungen ist! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
der theoretische Materialismus, in seine Consequenzen verfolgt, zu einem prakti¬
schen Materialismus führen muß, der unsere höhere geistige und sittliche Cultur
untergräbt. Der Materialismus und der Glaube an eine unsichtbare Welt mit
eigenem Sein, eigenem Gesetz, eigenem Werth schließen sich aus.

Sehen wir vom Materialismus ab und betreten den Boden der Systeme,
welche der unsichtbare" Welt ein eigenes Sein zuerkennen, so nehmen wir eine
Reihe von Unterschieden wahr, deren eine Grenze der Sensualismus, die andere
der Spiritualismus bildet. Denn ist auch das eigene Sein der Seele zuge¬
standen, so fragt es sich doch, theils welche Ausstattung diese besitzt, theils woher
sie ihren Inhalt schöpft, und daran schließt sich die andere Frage, welche Macht
ihr eigen ist, in dieser sichtbaren Welt sich zur Geltung zu bringen, sie zu
gestalten.

Der Sensualismus ist der eine Grenznachbar des Materialismus. Er
leitet das Sein der Seele nicht vom Sein des Körpers ab, aber er giebt dieser
keinen anderen Inhalt als den, welchen der Körper, die Sinne des Körpers,
vermitteln. Die einzige Aufgabe des denkenden Geistes ist es, das Material


so wäre der Sinn des Materialismus verfehlt. Derselbe behauptet vielmehr,
daß dieselbe Richtung, die das Körperliche erzeuge, damit auch das Geistige
hervorbringe. Das Geistige ist nicht das Ergebniß einer auf dasselbe gerich¬
teten, auf dasselbe es absehenden, also wesentlich, potenziell, geistigen Richtung,
sondern das zufällige Nebenerzeugniß einer ausschließlich körperlichen Bewegung
— das ist der Sinn des Materialismus. Und darin liegt es, daß wir nicht
bloß vom wissenschaftlichen, sondern auch vom ethischen Standpunkte aus, und
von ihm aus vor allem, Protest gegen den Materialismus erheben. Die un¬
sichtbare Welt, deren Dasein er anerkennt, hat weder ein eigenes Sein noch
eigenen Inhalt. Das Erzeugniß körperlicher Vorgänge, schwankt sie stetig zwi¬
schen Sein und Nichtsein, vom Eintreten jener ist ihr Sein überhaupt, von der
Art des Eintretens Kraft oder Schwäche desselben bedingt. Die unsichtbare
Welt ist hier nur ein Schein, der die körperlichen Bewegungen begleitet und je
nach der Zusammensetzung und Richtung dieser bald matter bald Heller leuchtet.
Und dem Inhalte der unsichtbaren Welt, dem Inhalte unseres geistigen Lebens,
welcher Werth kommt ihm hierzu? Welchen Anspruch aus Vertrauen kann unser
Denken erheben, welche Theilnahme Schmerz und Freude fordern, welche Achtung
sittliches Streben, wenn alles dies nur Spiegelungen körperlicher Veränderungen
sind! Und wie unbegründet ist unsere Entrüstung über Grausamkeit und Ver¬
worfenheit des Verbrechers, wie thöricht die Erziehung unserer Kinder, wenn
es nicht eine unsichtbare Welt giebt, der ein eigenes Sein und ein eigenes Gesetz
des Wirkens zukommt, wenn alles, was uns als sittlich schlecht erscheint, nur die
Frucht körperlicher Störungen ist! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
der theoretische Materialismus, in seine Consequenzen verfolgt, zu einem prakti¬
schen Materialismus führen muß, der unsere höhere geistige und sittliche Cultur
untergräbt. Der Materialismus und der Glaube an eine unsichtbare Welt mit
eigenem Sein, eigenem Gesetz, eigenem Werth schließen sich aus.

Sehen wir vom Materialismus ab und betreten den Boden der Systeme,
welche der unsichtbare« Welt ein eigenes Sein zuerkennen, so nehmen wir eine
Reihe von Unterschieden wahr, deren eine Grenze der Sensualismus, die andere
der Spiritualismus bildet. Denn ist auch das eigene Sein der Seele zuge¬
standen, so fragt es sich doch, theils welche Ausstattung diese besitzt, theils woher
sie ihren Inhalt schöpft, und daran schließt sich die andere Frage, welche Macht
ihr eigen ist, in dieser sichtbaren Welt sich zur Geltung zu bringen, sie zu
gestalten.

Der Sensualismus ist der eine Grenznachbar des Materialismus. Er
leitet das Sein der Seele nicht vom Sein des Körpers ab, aber er giebt dieser
keinen anderen Inhalt als den, welchen der Körper, die Sinne des Körpers,
vermitteln. Die einzige Aufgabe des denkenden Geistes ist es, das Material


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/540>, abgerufen am 22.07.2024.