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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Der Gotthard.

Mitten in die schwüle Atmosphäre politischen Mißtrauens und geheimniß-
voller Fürstenattentate blitzt wie ein befreiender Strahl die Nachricht von der
glücklichen Vollendung der achtjährigen Arbeit am Gotthardtunnel. Trotz mancher
Fährlichkeiten ist dies in seiner Art größte bautechnische Werk, welches in er¬
hebender Weise zeigt, welch großartiger Leistungen menschliche Intelligenz und
Ausdauer fähig ist, am 29. Februar zum erfreulichen Abschluß gekommen. Alle
aber, die ihren Geist und ihrer Hände Arbeit dem gewaltigen Unternehmen
gewidmet, haben verdienten Anspruch auf den Dank der Gegenwart und der
Zukunft für diesen unblutigen, aber anstrengungsvollen Sieg des Menschen
über das unüberwindbar scheinende Element.

Welche Wichtigkeit der neue Schienenweg für die Entwicklung des Verkehrs
aus nah und fern haben wird, dies zu erörtern, ist nicht der Zweck der folgenden
Zeilen; in der Erwägung, daß der Gotthard mit seinem Tunnel unter die be¬
deutendsten Erscheinungen der Welt gerückt ist, wollen wir nur versuchen, uns
die Hauptzüge seiner Gestalt und seiner geographischen Beschaffenheit zu ver¬
gegenwärtigen, und die Erinnerung an einige Blätter aus seiner Vergangenheit
auffrischen.

Während Reisen in die Gebirge und Bergbesteigungen zu den gepflegtesten
Liebhabereien unserer Zeit gehören, waren noch vor hundert Jahren genauere
Kenntnisse selbst der bedeutenderen Erhebungen kaum bei Fachgelehrten zu finden.
So darf man sich nicht wundern, daß bis zum Beginn der Messungen und
Einzelforschungen vielfache irrige Ansichten über den Zusammenhang der Berg¬
ketten, über die Ausdehnung der Berge und die Höhe ihrer Gipfel verbreitet
waren. Lange Zeit hindurch galt z. B. der Brocken für den höchsten Berg
Deutschlands, den Gotthard hielt man für die bedeutendste Erhebung in der
Schweiz wie in ganz Europa. Und dieser gewaltige Irrthum behauptete sich
uicht etwa bloß bei den Laien, deren im Auffassen und Beurtheilen ganzer
Gebirgszüge ungeübtes Auge sich leicht von der Einzelerscheinung imponiren
We, sondern auch Naturforscher blieben nicht bewahrt davor, die, wie I. I.
Scheuchzer, mit dem Barometer operirend ihre Studienreisen ausführten. Letzterer
sagt in seinem 1723--31 erschienenen, vierbändigen Werke: o^e^^o^? Hol-
veticus floh Itivma xsr Hslvstiss alpine rsxiones, das mit interessanten
Abbildungen geschmückt ist, daß "der Heilige Gotthard, wenn der Berg von
ihm seinen Namen habe, der höchste Heilige sei, weilen er seinen Sitz hat auf
dem höchsten Gipfel Europas". Sogar Saussure, einer der Begründer der in


Grenzboten I. 1os0. 60
Der Gotthard.

Mitten in die schwüle Atmosphäre politischen Mißtrauens und geheimniß-
voller Fürstenattentate blitzt wie ein befreiender Strahl die Nachricht von der
glücklichen Vollendung der achtjährigen Arbeit am Gotthardtunnel. Trotz mancher
Fährlichkeiten ist dies in seiner Art größte bautechnische Werk, welches in er¬
hebender Weise zeigt, welch großartiger Leistungen menschliche Intelligenz und
Ausdauer fähig ist, am 29. Februar zum erfreulichen Abschluß gekommen. Alle
aber, die ihren Geist und ihrer Hände Arbeit dem gewaltigen Unternehmen
gewidmet, haben verdienten Anspruch auf den Dank der Gegenwart und der
Zukunft für diesen unblutigen, aber anstrengungsvollen Sieg des Menschen
über das unüberwindbar scheinende Element.

Welche Wichtigkeit der neue Schienenweg für die Entwicklung des Verkehrs
aus nah und fern haben wird, dies zu erörtern, ist nicht der Zweck der folgenden
Zeilen; in der Erwägung, daß der Gotthard mit seinem Tunnel unter die be¬
deutendsten Erscheinungen der Welt gerückt ist, wollen wir nur versuchen, uns
die Hauptzüge seiner Gestalt und seiner geographischen Beschaffenheit zu ver¬
gegenwärtigen, und die Erinnerung an einige Blätter aus seiner Vergangenheit
auffrischen.

Während Reisen in die Gebirge und Bergbesteigungen zu den gepflegtesten
Liebhabereien unserer Zeit gehören, waren noch vor hundert Jahren genauere
Kenntnisse selbst der bedeutenderen Erhebungen kaum bei Fachgelehrten zu finden.
So darf man sich nicht wundern, daß bis zum Beginn der Messungen und
Einzelforschungen vielfache irrige Ansichten über den Zusammenhang der Berg¬
ketten, über die Ausdehnung der Berge und die Höhe ihrer Gipfel verbreitet
waren. Lange Zeit hindurch galt z. B. der Brocken für den höchsten Berg
Deutschlands, den Gotthard hielt man für die bedeutendste Erhebung in der
Schweiz wie in ganz Europa. Und dieser gewaltige Irrthum behauptete sich
uicht etwa bloß bei den Laien, deren im Auffassen und Beurtheilen ganzer
Gebirgszüge ungeübtes Auge sich leicht von der Einzelerscheinung imponiren
We, sondern auch Naturforscher blieben nicht bewahrt davor, die, wie I. I.
Scheuchzer, mit dem Barometer operirend ihre Studienreisen ausführten. Letzterer
sagt in seinem 1723—31 erschienenen, vierbändigen Werke: o^e^^o^? Hol-
veticus floh Itivma xsr Hslvstiss alpine rsxiones, das mit interessanten
Abbildungen geschmückt ist, daß „der Heilige Gotthard, wenn der Berg von
ihm seinen Namen habe, der höchste Heilige sei, weilen er seinen Sitz hat auf
dem höchsten Gipfel Europas". Sogar Saussure, einer der Begründer der in


Grenzboten I. 1os0. 60
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[0481] Der Gotthard. Mitten in die schwüle Atmosphäre politischen Mißtrauens und geheimniß- voller Fürstenattentate blitzt wie ein befreiender Strahl die Nachricht von der glücklichen Vollendung der achtjährigen Arbeit am Gotthardtunnel. Trotz mancher Fährlichkeiten ist dies in seiner Art größte bautechnische Werk, welches in er¬ hebender Weise zeigt, welch großartiger Leistungen menschliche Intelligenz und Ausdauer fähig ist, am 29. Februar zum erfreulichen Abschluß gekommen. Alle aber, die ihren Geist und ihrer Hände Arbeit dem gewaltigen Unternehmen gewidmet, haben verdienten Anspruch auf den Dank der Gegenwart und der Zukunft für diesen unblutigen, aber anstrengungsvollen Sieg des Menschen über das unüberwindbar scheinende Element. Welche Wichtigkeit der neue Schienenweg für die Entwicklung des Verkehrs aus nah und fern haben wird, dies zu erörtern, ist nicht der Zweck der folgenden Zeilen; in der Erwägung, daß der Gotthard mit seinem Tunnel unter die be¬ deutendsten Erscheinungen der Welt gerückt ist, wollen wir nur versuchen, uns die Hauptzüge seiner Gestalt und seiner geographischen Beschaffenheit zu ver¬ gegenwärtigen, und die Erinnerung an einige Blätter aus seiner Vergangenheit auffrischen. Während Reisen in die Gebirge und Bergbesteigungen zu den gepflegtesten Liebhabereien unserer Zeit gehören, waren noch vor hundert Jahren genauere Kenntnisse selbst der bedeutenderen Erhebungen kaum bei Fachgelehrten zu finden. So darf man sich nicht wundern, daß bis zum Beginn der Messungen und Einzelforschungen vielfache irrige Ansichten über den Zusammenhang der Berg¬ ketten, über die Ausdehnung der Berge und die Höhe ihrer Gipfel verbreitet waren. Lange Zeit hindurch galt z. B. der Brocken für den höchsten Berg Deutschlands, den Gotthard hielt man für die bedeutendste Erhebung in der Schweiz wie in ganz Europa. Und dieser gewaltige Irrthum behauptete sich uicht etwa bloß bei den Laien, deren im Auffassen und Beurtheilen ganzer Gebirgszüge ungeübtes Auge sich leicht von der Einzelerscheinung imponiren We, sondern auch Naturforscher blieben nicht bewahrt davor, die, wie I. I. Scheuchzer, mit dem Barometer operirend ihre Studienreisen ausführten. Letzterer sagt in seinem 1723—31 erschienenen, vierbändigen Werke: o^e^^o^? Hol- veticus floh Itivma xsr Hslvstiss alpine rsxiones, das mit interessanten Abbildungen geschmückt ist, daß „der Heilige Gotthard, wenn der Berg von ihm seinen Namen habe, der höchste Heilige sei, weilen er seinen Sitz hat auf dem höchsten Gipfel Europas". Sogar Saussure, einer der Begründer der in Grenzboten I. 1os0. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/481>, abgerufen am 03.07.2024.