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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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nur wenige treiben ein Handwerk, obwohl ihnen das dort niemals verwehrt war.
Im übrigen Königreiche Griechenland gab es 1857, wo Fränkl schrieb, nur in der
Stadt Chalkis auf der Insel Euböa eine jüdische Gemeinde, was begreiflich erscheint,
weil die Neugriechen selbst geriebene Handelsleute sind. Jene Gemeinde bestand,
von Venedig aus gegründet, seit etwa sechshundert Jahren, bediente sich im häus¬
lichen Verkehre des Spanischen und zählte ungefähr 300 Seelen. In Athen existirten
1854 nur zwei deutschrcdendc Judenfamilien, denen sich später noch einige aus
Zanke anschlössen. Die Kolonien, welche früher in der Morea anzutreffen waren,
sind während des Befreiungskrieges der Hellenen zu Gründe gegangen. Man hatte
sie vielleicht als unerfreuliche Nachbarn kennen gelernt.

Die Juden der Türkei werden von zwei Großrabbinern regiert, die beide ihren
Wohnsitz in Konstantinopel haben, und von denen der eine die politischen, der andere
die religiösen Angelegenheiten der israelitischen Unterthanen des Großherrn wahr¬
nimmt. Mit andern Worten, jener übt die Polizei, vertheilt die Steuern, legiti-
mirt Käufe und Verkäufe von Grundeigenthum und ernennt die Rabbiner für die
Provinzialstädte. Dieser segnet Ehen ein, nimmt Eide ab und besitzt die Befugnis;,
Vergehen gegen die Ceremonialgesetze zu bestrafen, in denen die Religion dieser wie
überhaupt der meisten orthodoxen Juden allein noch besteht. Konstantinopel hat
eine jüdische Bevölkerung von etwa 40000 Köpfen, wobei nur die gerechnet werden,
die dem türkischen Gesetz unterworfen sind, nicht aber die, welche als Schutzbefohlene
der fremden Gesandtschaften dort leben. Jene wohnen besonders in den Vorstädten
Balat und Hasköi. Es finden sich unter ihnen einige sehr reiche Kaufleute, die
meisten aber leben in dürftigen Verhältnissen. In beträchtlicher Zahl Handwerker
-- denn die schlauen Armenier von Stambul machen in Handelsgeschäften zu viel
Concurrenz --, zeigen sie Vorliebe besonders für das Klempner- und das Buchbinder-
gewerbe. Gegen 900 sind Fischer, gegen 700 Barbiere, ungefähr 600 betreiben
Gastwirthschaft, je 500 widmen sich den Beschäftigungen von Schneidern, Posa-
mentirern, Musikanten und Aerzten, über 400 endlich sind Nagelschmiede. Ihrer
Haussprache nach sind die meisten Sephardim, ihrer Secte nach gehören sie zu den
Rabbanim, d. h. den Anhängern des Talmud. Karaim, die wie die Sadducäer
die Tradition verwerfen und mit den übrigen Juden keinen Verkehr unterhalten,
finden sich in Konstantinopel nur etwa dritthalbhundert. Sie sollen besser geartet
sein als die andern, die von den Türken und Griechen mit größter Geringschätzung
behandelt werden.

Ebenfalls sehr starke israelitische Gemeinden bestehen in Adrianopel, in Brussa,
in Salonik und in Smyrna. Die letztgenannte Stadt hat unter ihren 120000
Einwohnern nicht weniger als 15000 Juden, die größtenteils aus dem Westen
eingewandert sind, seit ziemlich dreihundert Jahren eine Genossenschaft mit sepha-
redischem Ritus bilden und, wenn sie unter einander sind, das erwähnte verdorbene
Spanisch sprechen. Auch hier begegnen ihnen auf Seiten der Türken allenthalben
Verachtung und Haß, In Brussa leben circa 1600 Juden spanischer Abstammung,
die sich in erster Linie vom Handel, dann als Blechschmiede, Seidenweber und


nur wenige treiben ein Handwerk, obwohl ihnen das dort niemals verwehrt war.
Im übrigen Königreiche Griechenland gab es 1857, wo Fränkl schrieb, nur in der
Stadt Chalkis auf der Insel Euböa eine jüdische Gemeinde, was begreiflich erscheint,
weil die Neugriechen selbst geriebene Handelsleute sind. Jene Gemeinde bestand,
von Venedig aus gegründet, seit etwa sechshundert Jahren, bediente sich im häus¬
lichen Verkehre des Spanischen und zählte ungefähr 300 Seelen. In Athen existirten
1854 nur zwei deutschrcdendc Judenfamilien, denen sich später noch einige aus
Zanke anschlössen. Die Kolonien, welche früher in der Morea anzutreffen waren,
sind während des Befreiungskrieges der Hellenen zu Gründe gegangen. Man hatte
sie vielleicht als unerfreuliche Nachbarn kennen gelernt.

Die Juden der Türkei werden von zwei Großrabbinern regiert, die beide ihren
Wohnsitz in Konstantinopel haben, und von denen der eine die politischen, der andere
die religiösen Angelegenheiten der israelitischen Unterthanen des Großherrn wahr¬
nimmt. Mit andern Worten, jener übt die Polizei, vertheilt die Steuern, legiti-
mirt Käufe und Verkäufe von Grundeigenthum und ernennt die Rabbiner für die
Provinzialstädte. Dieser segnet Ehen ein, nimmt Eide ab und besitzt die Befugnis;,
Vergehen gegen die Ceremonialgesetze zu bestrafen, in denen die Religion dieser wie
überhaupt der meisten orthodoxen Juden allein noch besteht. Konstantinopel hat
eine jüdische Bevölkerung von etwa 40000 Köpfen, wobei nur die gerechnet werden,
die dem türkischen Gesetz unterworfen sind, nicht aber die, welche als Schutzbefohlene
der fremden Gesandtschaften dort leben. Jene wohnen besonders in den Vorstädten
Balat und Hasköi. Es finden sich unter ihnen einige sehr reiche Kaufleute, die
meisten aber leben in dürftigen Verhältnissen. In beträchtlicher Zahl Handwerker
— denn die schlauen Armenier von Stambul machen in Handelsgeschäften zu viel
Concurrenz —, zeigen sie Vorliebe besonders für das Klempner- und das Buchbinder-
gewerbe. Gegen 900 sind Fischer, gegen 700 Barbiere, ungefähr 600 betreiben
Gastwirthschaft, je 500 widmen sich den Beschäftigungen von Schneidern, Posa-
mentirern, Musikanten und Aerzten, über 400 endlich sind Nagelschmiede. Ihrer
Haussprache nach sind die meisten Sephardim, ihrer Secte nach gehören sie zu den
Rabbanim, d. h. den Anhängern des Talmud. Karaim, die wie die Sadducäer
die Tradition verwerfen und mit den übrigen Juden keinen Verkehr unterhalten,
finden sich in Konstantinopel nur etwa dritthalbhundert. Sie sollen besser geartet
sein als die andern, die von den Türken und Griechen mit größter Geringschätzung
behandelt werden.

Ebenfalls sehr starke israelitische Gemeinden bestehen in Adrianopel, in Brussa,
in Salonik und in Smyrna. Die letztgenannte Stadt hat unter ihren 120000
Einwohnern nicht weniger als 15000 Juden, die größtenteils aus dem Westen
eingewandert sind, seit ziemlich dreihundert Jahren eine Genossenschaft mit sepha-
redischem Ritus bilden und, wenn sie unter einander sind, das erwähnte verdorbene
Spanisch sprechen. Auch hier begegnen ihnen auf Seiten der Türken allenthalben
Verachtung und Haß, In Brussa leben circa 1600 Juden spanischer Abstammung,
die sich in erster Linie vom Handel, dann als Blechschmiede, Seidenweber und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/316>, abgerufen am 23.07.2024.