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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Hat sich einmal das religiöse Leben eine besondere Gestalt neben dem
sittlichen gegeben, so liegt die Gefahr nahe, daß es auch in Conflict mit
demselben geräth. Das gewöhnliche Leben mit seinen Arbeiten, Leiden und
Freuden erscheint jetzt leicht als das profane, dem religiösen gegenüber werth¬
lose. Da es nun in Folge dessen sür den Thätigkeitstrieb keine rechte positive
Aufgabe mehr giebt, so wirst er sich auf eine negative, asketische; und da der
Erkenntuißtrieb nicht auf der naturgemäßen Bahn der Wissenschaft einhergehen
darf, so sucht er sich auf den künstlichen Flügeln schwärmerischer Ekstase
oder phantastischer Speculation in ein überirdisches Gebiet aufzuschwingen.
Wenn eine solche religiöse Gemeinschaft unter Culturvölkern ihre Bekenner hat,
so kann es an feindlichen Zusammenstößen mit der Cultur, der naturgemäßen
sittlichen Gemeinschaft nicht fehlen, und diese müssen um so heftiger sein, da
die religiöse Gemeinschaft im Bewußtsein ihres Verkehres mit Gott nur zu
leicht auch ihre Verkehrsformen, Anschauungen und Einrichtungen auf göttliche
Eingebung und Einsetzung zurückführt. Diese Conflicte sind weit älter als der
zwischen der katholischen Kirche und dem Staatsleben. Der griechische Philosoph
Anaxagoras wurde -- von Sokrates ganz zu schweigen -- unter andern: auch des¬
halb unter die Anklage der Asebie (Gottlosigkeit) gestellt, "weil er die Sonne
für nichts als eine glühende Steinmasse erklärte, also den Sonnengott zu
leugnen schien".

Wenn wir gar noch an die zahlreichen sittlichen Ausartungen der Religion,
an die wüste Sinnlichkeit gewisser heidnischer Culte und an die blutige Grau¬
samkeit selbst der christlichen Kirche gegen ihre Ketzer denken, so drängt sich uns
die Frage auf: Ist vielleicht gar eine religionslose Sittlichkeit das Ziel, dem
wir zuzustreben haben? Die Frage wird heutzutage von nicht wenigen bejaht.

Ob freilich schon der Buddhismus, wie Happel meint, "allen Ernstes die
Völker von der Religion sammt allen ihren Uebeln erlösen" will, dürfte doch
noch sehr streitig sein. Zwar nennt auch Lipsius (Dogmatik S. 97) denselben
geradezu eine Religion ohne Gott, aber schon Max Müller (a. a. O.) drückt
sich vorsichtiger aus: "Buddha glaubte an keine Devas, vielleicht an keinen
Gott", und Pfleiderer bestreitet entschieden die Meinung von dem Atheismus
Buddhas. (Religionsphilosophie S. 635.) Jedenfalls hängt die Frage eng mit
der anderen nach dem Nirwana, dem Strebeziel der Religion Buddhas, zusammen.
Faßt man dieses rein nihilistisch als den Frieden des Kirchhofs auf, so liegt
dann allerdings auch der Schluß auf Atheismus nahe; denn in dem religiösen
Ideal spiegelt sich regelmäßig die Gottesidee einer Religion, in dem Lebensziel
des Einzelnen der Lebensgrund des Ganzen. Ist dagegen Nirwana doch ein
wirklich empfundener Zustand der Seligkeit, wenn auch einer völlig unbeschreib¬
lichen, von allen irdischen Lustgefühlen verschiedenen, so wird ihm auch ein


Hat sich einmal das religiöse Leben eine besondere Gestalt neben dem
sittlichen gegeben, so liegt die Gefahr nahe, daß es auch in Conflict mit
demselben geräth. Das gewöhnliche Leben mit seinen Arbeiten, Leiden und
Freuden erscheint jetzt leicht als das profane, dem religiösen gegenüber werth¬
lose. Da es nun in Folge dessen sür den Thätigkeitstrieb keine rechte positive
Aufgabe mehr giebt, so wirst er sich auf eine negative, asketische; und da der
Erkenntuißtrieb nicht auf der naturgemäßen Bahn der Wissenschaft einhergehen
darf, so sucht er sich auf den künstlichen Flügeln schwärmerischer Ekstase
oder phantastischer Speculation in ein überirdisches Gebiet aufzuschwingen.
Wenn eine solche religiöse Gemeinschaft unter Culturvölkern ihre Bekenner hat,
so kann es an feindlichen Zusammenstößen mit der Cultur, der naturgemäßen
sittlichen Gemeinschaft nicht fehlen, und diese müssen um so heftiger sein, da
die religiöse Gemeinschaft im Bewußtsein ihres Verkehres mit Gott nur zu
leicht auch ihre Verkehrsformen, Anschauungen und Einrichtungen auf göttliche
Eingebung und Einsetzung zurückführt. Diese Conflicte sind weit älter als der
zwischen der katholischen Kirche und dem Staatsleben. Der griechische Philosoph
Anaxagoras wurde — von Sokrates ganz zu schweigen — unter andern: auch des¬
halb unter die Anklage der Asebie (Gottlosigkeit) gestellt, „weil er die Sonne
für nichts als eine glühende Steinmasse erklärte, also den Sonnengott zu
leugnen schien".

Wenn wir gar noch an die zahlreichen sittlichen Ausartungen der Religion,
an die wüste Sinnlichkeit gewisser heidnischer Culte und an die blutige Grau¬
samkeit selbst der christlichen Kirche gegen ihre Ketzer denken, so drängt sich uns
die Frage auf: Ist vielleicht gar eine religionslose Sittlichkeit das Ziel, dem
wir zuzustreben haben? Die Frage wird heutzutage von nicht wenigen bejaht.

Ob freilich schon der Buddhismus, wie Happel meint, „allen Ernstes die
Völker von der Religion sammt allen ihren Uebeln erlösen" will, dürfte doch
noch sehr streitig sein. Zwar nennt auch Lipsius (Dogmatik S. 97) denselben
geradezu eine Religion ohne Gott, aber schon Max Müller (a. a. O.) drückt
sich vorsichtiger aus: „Buddha glaubte an keine Devas, vielleicht an keinen
Gott", und Pfleiderer bestreitet entschieden die Meinung von dem Atheismus
Buddhas. (Religionsphilosophie S. 635.) Jedenfalls hängt die Frage eng mit
der anderen nach dem Nirwana, dem Strebeziel der Religion Buddhas, zusammen.
Faßt man dieses rein nihilistisch als den Frieden des Kirchhofs auf, so liegt
dann allerdings auch der Schluß auf Atheismus nahe; denn in dem religiösen
Ideal spiegelt sich regelmäßig die Gottesidee einer Religion, in dem Lebensziel
des Einzelnen der Lebensgrund des Ganzen. Ist dagegen Nirwana doch ein
wirklich empfundener Zustand der Seligkeit, wenn auch einer völlig unbeschreib¬
lichen, von allen irdischen Lustgefühlen verschiedenen, so wird ihm auch ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/280>, abgerufen am 03.07.2024.