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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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anschauuug verwachsen könne", sondern fließender und nebelhafter bleiben. Nur
eine Naturerscheinung entschwand dem Auge nicht, wohin man auch deu
Wanderstab setzen mochte: der hohe Sternenhimmel. An ihn konnte sich daher
leicht die Vorstellung des einen Gottes anknüpfen, der bald als der Höchste,
bald als der Allmächtige bezeichnet wird. Das war ein einfacher, leicht zu
behaltender und doch außerordentlich entwicklungsfähiger Gedanke. War er aber
einmal ernstlich gefaßt, so nahm ihn, wie schon bemerkt, das zähe Stammes¬
bewußtsein, durch welches sich die Besten dieses Volkes auszeichneten, in seine
sichere Obhut, und gerade die Leiden, welche das wahre Israel als Gottes¬
kämpfer und Gottesknecht zu erdulden sich bewußt war, machte ihm seine Religion
doppelt theuer.

Daß aber nun nicht bloß das Ererbte conservirt, sondern das Entwicklungs¬
fähige wirklich entwickelt wurde, das war das Verdienst der religiösen Genien,
an denen Israel gerade so reich war. Vor allem ist hier Moses von grund¬
legender Bedeutung, dem sich nach 2. Mos. 6, 3 der allmächtige Gott der Väter
unter dem neuen Namen Jahve") offenbart. Es spricht sich darin das Be¬
wußtsein des Moses aus, auf dem Boden der Ueberlieferung zu stehen und
doch eine Fortbildung derselben zu vertreten, nämlich die Anschauung, daß der
über alles Vergängliche erhabene Gott, freilich zunächst mit einem einzelnen
Volke, einen Bund schließen will, der auf unverbrüchlichen moralischen Be¬
dingungen ruht. Aber wenn auch die Gottesfurcht einen reinen sittlichen Grund¬
ton anschlug, so hatte doch die sittliche Claviatur des Volkes Israel einen viel
zu geringen Umfang, als daß sich darauf ein klangvolles Tonstück reicher,-viel¬
seitiger, gottgeweihter Cultur hätte abspielen lassen. Die religiöse Richtung war
mit einseitiger Stärke ausgebildet, sodaß sie nicht sowohl darin sich bethätigte,
daß die großen menschlichen Gebiete der Kunst, Wissenschaft, des Staatslebens
u. f. w. in Gottes Namen und Geiste angebaut wurden, als vielmehr in den
privaten Tugenden des Familienlebens und der Wohlthätigkeit, sowie in mehr
oder weniger willkürlich angeordneten religiösen Ceremonien.

So galt es jetzt, den Strom echter Frömmigkeit aus dem engen Bett des
israelitischen Volksthums in das weite Culturgebiet der alten Welt, namentlich
zunächst des griechisch-römischen Lebens, hinciuszuleiten. Dies konnte aber erst
angestrebt werden, nachdem die Erkenntniß gewonnen war, daß die wahre
Gottesliebe und die Nächstenliebe, Religion und Sittlichkeit nicht außer einander
liegen wie zwei sich schneidende Kreise, sondern zusammengehören wie Avers



*) Die gewöhnliche Aussprache Jehova beruht bekanntlich auf einem Irrthum.
Die Bedeutung des Namens ist nach der Auffassung der Bibel selbst (2. Mos. 3,14) wohl:
Der Ewige, nach den neueren Sprachforschern dagegen: der Lebcnsspendcr, der ins Leben
Rufende.

anschauuug verwachsen könne», sondern fließender und nebelhafter bleiben. Nur
eine Naturerscheinung entschwand dem Auge nicht, wohin man auch deu
Wanderstab setzen mochte: der hohe Sternenhimmel. An ihn konnte sich daher
leicht die Vorstellung des einen Gottes anknüpfen, der bald als der Höchste,
bald als der Allmächtige bezeichnet wird. Das war ein einfacher, leicht zu
behaltender und doch außerordentlich entwicklungsfähiger Gedanke. War er aber
einmal ernstlich gefaßt, so nahm ihn, wie schon bemerkt, das zähe Stammes¬
bewußtsein, durch welches sich die Besten dieses Volkes auszeichneten, in seine
sichere Obhut, und gerade die Leiden, welche das wahre Israel als Gottes¬
kämpfer und Gottesknecht zu erdulden sich bewußt war, machte ihm seine Religion
doppelt theuer.

Daß aber nun nicht bloß das Ererbte conservirt, sondern das Entwicklungs¬
fähige wirklich entwickelt wurde, das war das Verdienst der religiösen Genien,
an denen Israel gerade so reich war. Vor allem ist hier Moses von grund¬
legender Bedeutung, dem sich nach 2. Mos. 6, 3 der allmächtige Gott der Väter
unter dem neuen Namen Jahve") offenbart. Es spricht sich darin das Be¬
wußtsein des Moses aus, auf dem Boden der Ueberlieferung zu stehen und
doch eine Fortbildung derselben zu vertreten, nämlich die Anschauung, daß der
über alles Vergängliche erhabene Gott, freilich zunächst mit einem einzelnen
Volke, einen Bund schließen will, der auf unverbrüchlichen moralischen Be¬
dingungen ruht. Aber wenn auch die Gottesfurcht einen reinen sittlichen Grund¬
ton anschlug, so hatte doch die sittliche Claviatur des Volkes Israel einen viel
zu geringen Umfang, als daß sich darauf ein klangvolles Tonstück reicher,-viel¬
seitiger, gottgeweihter Cultur hätte abspielen lassen. Die religiöse Richtung war
mit einseitiger Stärke ausgebildet, sodaß sie nicht sowohl darin sich bethätigte,
daß die großen menschlichen Gebiete der Kunst, Wissenschaft, des Staatslebens
u. f. w. in Gottes Namen und Geiste angebaut wurden, als vielmehr in den
privaten Tugenden des Familienlebens und der Wohlthätigkeit, sowie in mehr
oder weniger willkürlich angeordneten religiösen Ceremonien.

So galt es jetzt, den Strom echter Frömmigkeit aus dem engen Bett des
israelitischen Volksthums in das weite Culturgebiet der alten Welt, namentlich
zunächst des griechisch-römischen Lebens, hinciuszuleiten. Dies konnte aber erst
angestrebt werden, nachdem die Erkenntniß gewonnen war, daß die wahre
Gottesliebe und die Nächstenliebe, Religion und Sittlichkeit nicht außer einander
liegen wie zwei sich schneidende Kreise, sondern zusammengehören wie Avers



*) Die gewöhnliche Aussprache Jehova beruht bekanntlich auf einem Irrthum.
Die Bedeutung des Namens ist nach der Auffassung der Bibel selbst (2. Mos. 3,14) wohl:
Der Ewige, nach den neueren Sprachforschern dagegen: der Lebcnsspendcr, der ins Leben
Rufende.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/278>, abgerufen am 03.07.2024.