Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.unter allen Völkern auftreten." Vielmehr unterscheidet er nach ihrer gesammten Die beiden zuerst genannten Stufen verhalten sich zu einander wie die Begreiflich ist es, daß einfache Hirtenvölker wie die Jsraeliten und jagd- unter allen Völkern auftreten." Vielmehr unterscheidet er nach ihrer gesammten Die beiden zuerst genannten Stufen verhalten sich zu einander wie die Begreiflich ist es, daß einfache Hirtenvölker wie die Jsraeliten und jagd- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146203"/> <p xml:id="ID_759" prev="#ID_758"> unter allen Völkern auftreten." Vielmehr unterscheidet er nach ihrer gesammten<lb/> Geistesrichtung und ihrem inneren Werthe die sinnliche, die materialisirte, die<lb/> versittlichte und die normalisirte Religionsstufe. Wir würden uns freilich unter<lb/> den gegebenen Religionen vergebens nach solchen umsehen, die als reine Para¬<lb/> digmata dieser vier Klassen dienen könnten. Das volle, vielseitige Leben will<lb/> sich eben nie ganz dem begrifflichen Schema fügen; bald ragt das unregelmäßig<lb/> gestaltete Gebiet einer empirischen Religion hinaus über die Längen- und Breiten¬<lb/> grade, durch die wir seine Lage im geistigen Kosmos bezeichnen möchten, bald<lb/> wieder reicht es nicht an sie heran. Aber in welchem jener vier Bezirke der<lb/> principielle Schwerpunkt liegt, wird sich bei den meisten Religionen ausmachen<lb/> lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_760"> Die beiden zuerst genannten Stufen verhalten sich zu einander wie die<lb/> kindlich-naive Phantasie-Anschauung zu einer das rechte Maß überschreitenden<lb/> Richtung des Geistes auf das Sinnliche. Auf jenem ersten Standpunkte ist es<lb/> selbstverständlich, daß „Gott ißt, trinkt, riecht, schmeckt, geht, fährt, fliegt, lacht,<lb/> zürnt, bereut"; dagegen verräth sich der zweite Standpunkt, wenn die Götter<lb/> neidisch, gefräßig, trunksüchtig und wollüstig gedacht werden. Der kindlich-naive<lb/> Religionstypus ist, wenn man von der Entwicklung des einzelnen Menschen auf<lb/> die des Menschengeschlechtes schließen darf, der ursprünglichste; der rohsinnliche<lb/> dagegen ist als eine Ausartung von jenem zu betrachten. Die richtigste Vor¬<lb/> stellung von jeuer urwüchsigen, unschuldig sinnlichen Gottesvorstellung gewinnt<lb/> man nach Happel aus dem alten Testament, während ihm „die vedische Ansicht<lb/> und Behandlung der Götter im Ganzen mehr den Eindruck eiuer herabgekom-<lb/> menen kindischen, als einer ursprünglich kindlichen Religion" macht. Nach den<lb/> Proben, die man aus zweiter Hand von der vedischen Literatur zu erhalten<lb/> pflegt, fühlt man diesem letzten Urtheil gegenüber sich allerdings zu dem Ein¬<lb/> spruch veranlaßt: „Das ist eine harte Rede; wer mag sie hören?" Jedenfalls<lb/> sind hier sorgfältiger, als es der Laie vermag, die verschiedenen Schichten der<lb/> vedischen Literatur zu unterscheiden, wie denn auch Max Müller (a. a. O.) er¬<lb/> klärt, daß sich im Rig-Veda noch keine Spur vom Fetischismus findet, viele<lb/> dagegen in späteren Veden.</p><lb/> <p xml:id="ID_761" next="#ID_762"> Begreiflich ist es, daß einfache Hirtenvölker wie die Jsraeliten und jagd-<lb/> und kriegsfrohe Naturvölker wie die alten Germanen vor dem Herabsinken in<lb/> trägen Sinnengenuß und damit vor grobsinnlicher Göttervorstellung und -Ver¬<lb/> ehrung besser gesichert waren als wohlsituirte Culturvölker wie die Phönicier.<lb/> Eine Ahnung hiervon spricht sich wohl auch in der Sage von dem Ackerbauer<lb/> Cain und dem Hirten Abel aus. Aber mögen wir es nun mit vorderasiatischen<lb/> Culturvölkern oder mit amerikanischen und australischen Naturvölkern zu thun<lb/> haben, mit den wollüstigen Culten berührt sich gewöhnlich auf demselben Boden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0274]
unter allen Völkern auftreten." Vielmehr unterscheidet er nach ihrer gesammten
Geistesrichtung und ihrem inneren Werthe die sinnliche, die materialisirte, die
versittlichte und die normalisirte Religionsstufe. Wir würden uns freilich unter
den gegebenen Religionen vergebens nach solchen umsehen, die als reine Para¬
digmata dieser vier Klassen dienen könnten. Das volle, vielseitige Leben will
sich eben nie ganz dem begrifflichen Schema fügen; bald ragt das unregelmäßig
gestaltete Gebiet einer empirischen Religion hinaus über die Längen- und Breiten¬
grade, durch die wir seine Lage im geistigen Kosmos bezeichnen möchten, bald
wieder reicht es nicht an sie heran. Aber in welchem jener vier Bezirke der
principielle Schwerpunkt liegt, wird sich bei den meisten Religionen ausmachen
lassen.
Die beiden zuerst genannten Stufen verhalten sich zu einander wie die
kindlich-naive Phantasie-Anschauung zu einer das rechte Maß überschreitenden
Richtung des Geistes auf das Sinnliche. Auf jenem ersten Standpunkte ist es
selbstverständlich, daß „Gott ißt, trinkt, riecht, schmeckt, geht, fährt, fliegt, lacht,
zürnt, bereut"; dagegen verräth sich der zweite Standpunkt, wenn die Götter
neidisch, gefräßig, trunksüchtig und wollüstig gedacht werden. Der kindlich-naive
Religionstypus ist, wenn man von der Entwicklung des einzelnen Menschen auf
die des Menschengeschlechtes schließen darf, der ursprünglichste; der rohsinnliche
dagegen ist als eine Ausartung von jenem zu betrachten. Die richtigste Vor¬
stellung von jeuer urwüchsigen, unschuldig sinnlichen Gottesvorstellung gewinnt
man nach Happel aus dem alten Testament, während ihm „die vedische Ansicht
und Behandlung der Götter im Ganzen mehr den Eindruck eiuer herabgekom-
menen kindischen, als einer ursprünglich kindlichen Religion" macht. Nach den
Proben, die man aus zweiter Hand von der vedischen Literatur zu erhalten
pflegt, fühlt man diesem letzten Urtheil gegenüber sich allerdings zu dem Ein¬
spruch veranlaßt: „Das ist eine harte Rede; wer mag sie hören?" Jedenfalls
sind hier sorgfältiger, als es der Laie vermag, die verschiedenen Schichten der
vedischen Literatur zu unterscheiden, wie denn auch Max Müller (a. a. O.) er¬
klärt, daß sich im Rig-Veda noch keine Spur vom Fetischismus findet, viele
dagegen in späteren Veden.
Begreiflich ist es, daß einfache Hirtenvölker wie die Jsraeliten und jagd-
und kriegsfrohe Naturvölker wie die alten Germanen vor dem Herabsinken in
trägen Sinnengenuß und damit vor grobsinnlicher Göttervorstellung und -Ver¬
ehrung besser gesichert waren als wohlsituirte Culturvölker wie die Phönicier.
Eine Ahnung hiervon spricht sich wohl auch in der Sage von dem Ackerbauer
Cain und dem Hirten Abel aus. Aber mögen wir es nun mit vorderasiatischen
Culturvölkern oder mit amerikanischen und australischen Naturvölkern zu thun
haben, mit den wollüstigen Culten berührt sich gewöhnlich auf demselben Boden
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