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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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griffe, und vergeblich wartete man auf eine klare und entschiedene Meinungs-
äußerung derer, die in erster Linie dem Volke zu rathen bestellt waren. Während
aus den sich gegenüberstehenden Parteien Recepte zur Heilung der Noth hin und
herflogen und die Stentorstimmen der Rufer im Streit bis in die entferntesten
Winkel des Reiches drangen, hüllten sich die meisten und darunter die größten
Lichter des Katheders in tiefes Schweigen -- das Schweigen der Verlegenheit.

"Vor allem scheinen," wie Stein bemerkt, "viele Nationalökonomen über den
Begriff ihrer Wissenschaft nicht im Klaren zu sein. Wer die Nationalökonomie
auf die Production und Vertheilung der Tauschwerthe zustutzt und die Volks¬
wirthschaftspolitik nebst der Bevölkernngslehre sozusagen nur als Anhängsel
betrachtet, wer die Nationalökonomie bloß als Lehre von den Mitteln zur Be¬
friedigung der Consumtion auffaßt und die Volkswirthschaft als die fortgesetzte
Thätigkeit zur Erwerbung und Vermehrung des Reichthums definirt, der erhält
allerdings eine Schablone oder auch ein System, aber die eigentliche Wissen¬
schaft gewinnt dabei so wenig als die Praxis."

Daran ändert auch das Thun derer nichts, welche ein Ragout von ge¬
schraubten Definitionen und gesuchten Worten zusammenkochen und, um ihm ein
Ansehen zu geben, es mit allerlei Flitterwerk in Gestalt von mehr oder minder
werthlosen Auszügen und Citaten aus den Schriften aller möglichen National-
ökonomen, Socialisten, Populationiften, Communisten, Schutzzöllnern und Frei¬
händlern anputzen, dann einzelne Vorgänge des privaten wirthschaftlichen Lebens
mit gelehrter Sauce zu angeblichen Heilswahrheiten Herrichten und diese Dog¬
men benutzen, um einige nothdürftige Schlußfolgerungen für die künftige Ge¬
staltung der nationalen Wirthschaft, der gesellschaftlichen Organisation und der
staatlichen Wohlfahrt abzuleiten. "Auf der einen Seite wird die Nationalöko¬
nomie verkümmert, indem man ihr Gebiet nach der Schablone beschneidet, auf
der andern werden Dinge aus der Praxis hereingezogen, welche nicht zur
Wissenschaft gehören. Man bemüht sich, wirthschaftliche Erscheinungen, welche
in tausenderlei stets wechselnden Formen und Gestalten sich Präsentiren, in die
spanischen Stiefel der Definition hineinzuzwängen und mit Benutzung der zu
einer besonderen Fachwissenschaft erhobenen Statistik aus einer Menge nur an¬
nähernd oder scheinbar gleichartiger Thatsachen ^Naturgesetz^ zu gewinnen."

Sehr charakteristisch für die Auffassung der Nationalökonomie auf den
meisten Kathedern ist deren Verweisung in die Facultät der Juristen. Mit
Recht sagt Stein: "Eine Wissenschaft, welche sich mit den mannigfaltigen Bedürf¬
nissen der nationalen Existenz beschäftigen soll, paßt sehr wenig zu einer Wissen¬
schaft, welche es vornehmlich mit schulmäßig krystallisirten Begriffsbestimmungen
zu thun hat."... "Die Nationalökonomie hat von ihrer juristischen Nachbarschaft


griffe, und vergeblich wartete man auf eine klare und entschiedene Meinungs-
äußerung derer, die in erster Linie dem Volke zu rathen bestellt waren. Während
aus den sich gegenüberstehenden Parteien Recepte zur Heilung der Noth hin und
herflogen und die Stentorstimmen der Rufer im Streit bis in die entferntesten
Winkel des Reiches drangen, hüllten sich die meisten und darunter die größten
Lichter des Katheders in tiefes Schweigen — das Schweigen der Verlegenheit.

„Vor allem scheinen," wie Stein bemerkt, „viele Nationalökonomen über den
Begriff ihrer Wissenschaft nicht im Klaren zu sein. Wer die Nationalökonomie
auf die Production und Vertheilung der Tauschwerthe zustutzt und die Volks¬
wirthschaftspolitik nebst der Bevölkernngslehre sozusagen nur als Anhängsel
betrachtet, wer die Nationalökonomie bloß als Lehre von den Mitteln zur Be¬
friedigung der Consumtion auffaßt und die Volkswirthschaft als die fortgesetzte
Thätigkeit zur Erwerbung und Vermehrung des Reichthums definirt, der erhält
allerdings eine Schablone oder auch ein System, aber die eigentliche Wissen¬
schaft gewinnt dabei so wenig als die Praxis."

Daran ändert auch das Thun derer nichts, welche ein Ragout von ge¬
schraubten Definitionen und gesuchten Worten zusammenkochen und, um ihm ein
Ansehen zu geben, es mit allerlei Flitterwerk in Gestalt von mehr oder minder
werthlosen Auszügen und Citaten aus den Schriften aller möglichen National-
ökonomen, Socialisten, Populationiften, Communisten, Schutzzöllnern und Frei¬
händlern anputzen, dann einzelne Vorgänge des privaten wirthschaftlichen Lebens
mit gelehrter Sauce zu angeblichen Heilswahrheiten Herrichten und diese Dog¬
men benutzen, um einige nothdürftige Schlußfolgerungen für die künftige Ge¬
staltung der nationalen Wirthschaft, der gesellschaftlichen Organisation und der
staatlichen Wohlfahrt abzuleiten. „Auf der einen Seite wird die Nationalöko¬
nomie verkümmert, indem man ihr Gebiet nach der Schablone beschneidet, auf
der andern werden Dinge aus der Praxis hereingezogen, welche nicht zur
Wissenschaft gehören. Man bemüht sich, wirthschaftliche Erscheinungen, welche
in tausenderlei stets wechselnden Formen und Gestalten sich Präsentiren, in die
spanischen Stiefel der Definition hineinzuzwängen und mit Benutzung der zu
einer besonderen Fachwissenschaft erhobenen Statistik aus einer Menge nur an¬
nähernd oder scheinbar gleichartiger Thatsachen ^Naturgesetz^ zu gewinnen."

Sehr charakteristisch für die Auffassung der Nationalökonomie auf den
meisten Kathedern ist deren Verweisung in die Facultät der Juristen. Mit
Recht sagt Stein: „Eine Wissenschaft, welche sich mit den mannigfaltigen Bedürf¬
nissen der nationalen Existenz beschäftigen soll, paßt sehr wenig zu einer Wissen¬
schaft, welche es vornehmlich mit schulmäßig krystallisirten Begriffsbestimmungen
zu thun hat."... „Die Nationalökonomie hat von ihrer juristischen Nachbarschaft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/269>, abgerufen am 03.07.2024.