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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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wesentlich andere Anschauungen und Bestrebungen, und hieran in geschichtlicher
Reihenfolge zu erinnern, ist die nächste Absicht der folgenden Betrachtungen.

Als 1795 die dritte Theilung Polens erfolgte, nahm sich Rußland außer
dem Herzogthum Kurland alles, was bei der zweiten Theilung der Republik
von Litthauen geblieben war, alles Land bis an den Riemen, eine gerade Linie
von Grodno bis Brzesc-Litowski, und den oberen Bug, im Ganzen ein Gebiet
von 2030 Quadratmeilen. Oesterreich erhielt das Land auf beiden Seiten der
oberen Weichsel, hier bis zur Piliza, dort bis zum Bug, im Ganzen etwas über
1000 Quadratmeilen. Preußen endlich, das ungefähr 1300 Quadratmeilen be¬
ansprucht, aber mit dieser Forderung dem Einspruch der beiden andern Mächte,
die bis zum Kriege zu gehen entschlossen waren, sich zu fügen hatte, mußte sich
mit 697 Quadratmeilen begnügen. Es bekam Warschau, hatte aber auf Krakau
zu Gunsten Oesterreichs zu verzichten.

Später, im Januar 1798, schrieb das französische Directorium seinem Ber¬
liner Gesandten, er solle der preußischen Regierung vorschlagen, aus den ihr
zugefallenen polnischen Provinzen ein eigenes Reich unter einem Prinzen des
Hauses Hohenzollern zu bilden und so die Wiederherstellung ganz Polens ein¬
zuleiten. Der betreffende Brief gelangte aber nicht an seine Adresse, sondern
nach Petersburg. Hier wurde andrerseits 1805 dnrch den Fürsten Adam Georg
Czartoryski bei Kaiser Alexander der Plan angeregt, den Umstand, daß Preußen
sich weigerte, am Kriege Rußlands und Oesterreichs gegen Frankreich theilzu¬
nehmen, zur Erweiterung der russischen Grenzen bis an die Weichsel und über
diese hinaus zu benutzen, wobei auch an Ostpreußen gedacht wurde. Die Polen
der östlichen preußischen Provinzen sollten sich in Masse erheben, das Reich
Polen sollte wieder erstehen und Alexander dessen König werden. Der Gedanke schei¬
terte daran, daß man russischerseits nicht die militärische Macht vereinigt hatte,
die zu seiner Ausführung nöthig war, und daß Alexander im entscheidenden
Augenblicke Bedenken empfand und von der Sache absah.

Der Krieg von 1806 und der Tilsiter Frieden find bekannt. Preußen
verlor dnrch letzteren, von Rußland, seinem Verbündeten, schmählich verlassen
die Hälste seines Länderbestandes, darunter seine polnischen Provinzen, und aus
letzteren wurde das Großherzogthum Warschau gebildet, zu dessen nominellem
Landesherrn Napoleon den König von Sachsen ernannte, während er selbst der
eigentliche Herr blieb. Für das preußisch gewesene Polen war die deutsche
Verwaltung im Ganzen ein Segen, für Preußen selbst aber war sie kein Ge¬
winn gewesen. Bis auf den heutigen Tag sind dort die deutlichen Spuren
jener gerechten und auf Hebung der Cultur bedachten Verwaltung zu finden,
während andrerseits die damalige Entartung des preußischen Systems wesentlich
auf eine übermäßige Anspannung der Kräfte des Staates zu Gunsten des schwer


wesentlich andere Anschauungen und Bestrebungen, und hieran in geschichtlicher
Reihenfolge zu erinnern, ist die nächste Absicht der folgenden Betrachtungen.

Als 1795 die dritte Theilung Polens erfolgte, nahm sich Rußland außer
dem Herzogthum Kurland alles, was bei der zweiten Theilung der Republik
von Litthauen geblieben war, alles Land bis an den Riemen, eine gerade Linie
von Grodno bis Brzesc-Litowski, und den oberen Bug, im Ganzen ein Gebiet
von 2030 Quadratmeilen. Oesterreich erhielt das Land auf beiden Seiten der
oberen Weichsel, hier bis zur Piliza, dort bis zum Bug, im Ganzen etwas über
1000 Quadratmeilen. Preußen endlich, das ungefähr 1300 Quadratmeilen be¬
ansprucht, aber mit dieser Forderung dem Einspruch der beiden andern Mächte,
die bis zum Kriege zu gehen entschlossen waren, sich zu fügen hatte, mußte sich
mit 697 Quadratmeilen begnügen. Es bekam Warschau, hatte aber auf Krakau
zu Gunsten Oesterreichs zu verzichten.

Später, im Januar 1798, schrieb das französische Directorium seinem Ber¬
liner Gesandten, er solle der preußischen Regierung vorschlagen, aus den ihr
zugefallenen polnischen Provinzen ein eigenes Reich unter einem Prinzen des
Hauses Hohenzollern zu bilden und so die Wiederherstellung ganz Polens ein¬
zuleiten. Der betreffende Brief gelangte aber nicht an seine Adresse, sondern
nach Petersburg. Hier wurde andrerseits 1805 dnrch den Fürsten Adam Georg
Czartoryski bei Kaiser Alexander der Plan angeregt, den Umstand, daß Preußen
sich weigerte, am Kriege Rußlands und Oesterreichs gegen Frankreich theilzu¬
nehmen, zur Erweiterung der russischen Grenzen bis an die Weichsel und über
diese hinaus zu benutzen, wobei auch an Ostpreußen gedacht wurde. Die Polen
der östlichen preußischen Provinzen sollten sich in Masse erheben, das Reich
Polen sollte wieder erstehen und Alexander dessen König werden. Der Gedanke schei¬
terte daran, daß man russischerseits nicht die militärische Macht vereinigt hatte,
die zu seiner Ausführung nöthig war, und daß Alexander im entscheidenden
Augenblicke Bedenken empfand und von der Sache absah.

Der Krieg von 1806 und der Tilsiter Frieden find bekannt. Preußen
verlor dnrch letzteren, von Rußland, seinem Verbündeten, schmählich verlassen
die Hälste seines Länderbestandes, darunter seine polnischen Provinzen, und aus
letzteren wurde das Großherzogthum Warschau gebildet, zu dessen nominellem
Landesherrn Napoleon den König von Sachsen ernannte, während er selbst der
eigentliche Herr blieb. Für das preußisch gewesene Polen war die deutsche
Verwaltung im Ganzen ein Segen, für Preußen selbst aber war sie kein Ge¬
winn gewesen. Bis auf den heutigen Tag sind dort die deutlichen Spuren
jener gerechten und auf Hebung der Cultur bedachten Verwaltung zu finden,
während andrerseits die damalige Entartung des preußischen Systems wesentlich
auf eine übermäßige Anspannung der Kräfte des Staates zu Gunsten des schwer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/188>, abgerufen am 23.07.2024.