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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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dnselte man lange fort in der Confusion, als ob über Dorf-, Stadt-, Kreis-,
partikularen Staatsparlamenten eine nationale Souveränetät mit Regierung und
Parlament bestehen könne. Da kam Gneist, als die Märzbewegung den tiefsten
Grund ihres Niedergangs erreicht hatte, und legte seit 1856 in Werken voll
tiefer Gedanken und schwerer Gelehrsamkeit den Hauptgedanken nieder: Selbst¬
verwaltung ist Ausführung der Gesetze des Staats, d. h. der Centralregiernng,
durch den unentgeltlichen Ehrendienst der Bürger, welche der Staat zu diesem
Dienste berust. Indem jedoch Gneist mehrfach davon sprach, daß eine Verwal¬
tung, die nicht nach Rechtsgesetzen, sondern nach eigenen Maximen und eigener
Tradition geführt wird, und deren Glieder lediglich Berussbeamte sind, welche
der Staat besoldet, sich mit einem Parlament nicht vertragen, sondern mit ihm
nur Kollisionen haben können, gab er zu einem neuen Mißverstündniß Anlaß.
Obwohl Gneist die sogenannte parlamentarische Regierung rund heraus für eine
Entartung der wahren englischen Staatsverfassung erklärte, wurde er mit dieser
Ansicht als ein Schrullenjäger behandelt. Jedes Zeitbewußtsein nimmt nur
auf, was ihm zusagt, wenn es nicht etwa bis zur Selbstzerstörung aufgerüttelt
wird. Greises liberale Zeitgenossen lernten von ihm nur, was sie wollten, das¬
jenige, was, wie man zu sagen pflegt, in ihren Kram paßte. An der parla¬
mentarischen Souveränetät, als Ziel der Staatsentwicklung, hielt man fest und
ließ sich nicht durch Gneist von der Untauglichkeit dieses Zieles überzeugen.
Aber man lernte von Gneist, daß die Staatsverwaltung nicht mehr allein durch
einen geschlossenen Berufsstand geführt werden dürfe und nicht mehr allein nach
Maximen, welche Eigenthum dieses Standes bleiben, sondern nach rechtlichen
Normen. Daß jeder dieser beiden Gedanken nur richtig ist, wenn ihm die rich¬
tige Grenze gezogen wird, darum kümmerte man sich, froh der neuen Weisheit,
herzlich wenig. Man hätte am liebsten jeden Schritt des Beamten an Gesetze
gebunden und die Gerichtshöfe des Privatrechts, die man sonderbarerweise allein
ordentliche Gerichte nennt, zum Wächter der ausführenden Verwaltung bestellt.
Auch hier hat Greises unermüdliche Belehrung nach und nach dem gröbsten
Mißverständniß etwas den Raum geschmälert. Man hat sich bequemt, einzu¬
sehen, daß das öffentliche Recht und das Privatrecht von solcher Verschiedenheit
sind, daß sie eine gesonderte Rechtspflege erheischen. Ungern dagegen entschließt
man sich zu lernen, daß nicht das ganze staatliche Thun bis in die Einzelheiten
dnrch Gesetze bestimmt werden kann. Mit dem frohen Glauben, daß dies mög¬
lich sei, meinte man sich des Berufsbeamtenthums beinahe ganz entledigen zu
können. Denn wenn der Staatsdienst darin besteht, Gesetze nachzuschlagen und
nach dem Gefundenen zu verfahren, so kann diese Kunst jeder Laie erlernen.
Wenn diese Art von Selbstverwaltung erreicht wäre, dachte man sich die Har¬
monie zwischen Parlament und Verwaltung hergestellt. Was kann die Verwal-,


dnselte man lange fort in der Confusion, als ob über Dorf-, Stadt-, Kreis-,
partikularen Staatsparlamenten eine nationale Souveränetät mit Regierung und
Parlament bestehen könne. Da kam Gneist, als die Märzbewegung den tiefsten
Grund ihres Niedergangs erreicht hatte, und legte seit 1856 in Werken voll
tiefer Gedanken und schwerer Gelehrsamkeit den Hauptgedanken nieder: Selbst¬
verwaltung ist Ausführung der Gesetze des Staats, d. h. der Centralregiernng,
durch den unentgeltlichen Ehrendienst der Bürger, welche der Staat zu diesem
Dienste berust. Indem jedoch Gneist mehrfach davon sprach, daß eine Verwal¬
tung, die nicht nach Rechtsgesetzen, sondern nach eigenen Maximen und eigener
Tradition geführt wird, und deren Glieder lediglich Berussbeamte sind, welche
der Staat besoldet, sich mit einem Parlament nicht vertragen, sondern mit ihm
nur Kollisionen haben können, gab er zu einem neuen Mißverstündniß Anlaß.
Obwohl Gneist die sogenannte parlamentarische Regierung rund heraus für eine
Entartung der wahren englischen Staatsverfassung erklärte, wurde er mit dieser
Ansicht als ein Schrullenjäger behandelt. Jedes Zeitbewußtsein nimmt nur
auf, was ihm zusagt, wenn es nicht etwa bis zur Selbstzerstörung aufgerüttelt
wird. Greises liberale Zeitgenossen lernten von ihm nur, was sie wollten, das¬
jenige, was, wie man zu sagen pflegt, in ihren Kram paßte. An der parla¬
mentarischen Souveränetät, als Ziel der Staatsentwicklung, hielt man fest und
ließ sich nicht durch Gneist von der Untauglichkeit dieses Zieles überzeugen.
Aber man lernte von Gneist, daß die Staatsverwaltung nicht mehr allein durch
einen geschlossenen Berufsstand geführt werden dürfe und nicht mehr allein nach
Maximen, welche Eigenthum dieses Standes bleiben, sondern nach rechtlichen
Normen. Daß jeder dieser beiden Gedanken nur richtig ist, wenn ihm die rich¬
tige Grenze gezogen wird, darum kümmerte man sich, froh der neuen Weisheit,
herzlich wenig. Man hätte am liebsten jeden Schritt des Beamten an Gesetze
gebunden und die Gerichtshöfe des Privatrechts, die man sonderbarerweise allein
ordentliche Gerichte nennt, zum Wächter der ausführenden Verwaltung bestellt.
Auch hier hat Greises unermüdliche Belehrung nach und nach dem gröbsten
Mißverständniß etwas den Raum geschmälert. Man hat sich bequemt, einzu¬
sehen, daß das öffentliche Recht und das Privatrecht von solcher Verschiedenheit
sind, daß sie eine gesonderte Rechtspflege erheischen. Ungern dagegen entschließt
man sich zu lernen, daß nicht das ganze staatliche Thun bis in die Einzelheiten
dnrch Gesetze bestimmt werden kann. Mit dem frohen Glauben, daß dies mög¬
lich sei, meinte man sich des Berufsbeamtenthums beinahe ganz entledigen zu
können. Denn wenn der Staatsdienst darin besteht, Gesetze nachzuschlagen und
nach dem Gefundenen zu verfahren, so kann diese Kunst jeder Laie erlernen.
Wenn diese Art von Selbstverwaltung erreicht wäre, dachte man sich die Har¬
monie zwischen Parlament und Verwaltung hergestellt. Was kann die Verwal-,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/182>, abgerufen am 03.07.2024.