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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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tritt seines Nachfolgers wird den Beginn rascheren Bergabgehens bezeichnen.
Die letzten Nachrichten meldeten, daß das Ministerium Waddington seine Ent¬
lassung gefordert und Freycinet vom Präsidenten den Auftrag erhalten, ein
neues Cabinet zu bilde::. Selbst wenn letzterer, ein Mitglied der republikani¬
schen Linken und in Fühlung mit Gambetta, mehrere von den bisherigen Mini¬
stern zu Mitarbeitern unter seiner Leitung gewinnen sollte, wird ein Cabinet
Freycinet unter allen Umständen einen starken Schritt nach links bedeuten. Die
Dinge in Frankreich gleiten in immer mehr beschleunigtem Tempo dem Radi¬
kalismus und mit diesen: der Anarchie der Blanquisten zu. Das einzige Erfreu¬
liche an Frankreich ist, daß die Regierung und die Majorität der Gesetzgebung
ebenfalls den Kampf mit den Ultramontanen aufgenommen hat und ihn bis
jetzt energisch fortzusetzen entschlossen scheint.

Ju Betreff der Völker und Staaten, die nicht Nachbarn Deutschlands sind,
und deren Beziehungen zu unsern Interessen erst in zweiter und dritter Linie
in Betracht kommen, wollen wir uns kurz fassen. In England wurde von der
Partei Gladstones, bisher ohne erheblichen Erfolg, gegen die jetzt am Ruder
befindlichen Tones agitirt, während in Irland die nationalen nach Kräften in
Stadt und Land wühlten. Man führte mit wechselndem Glück, zuletzt nach
einer schweren Niederlage siegreich, Krieg mit den Zulus, und zu gleicher Zeit
versuchte mau sich durch Niederwerfung der Afghanen eine bessere Grenze gegen
das den brittischen Besitzungen in Indien von Jahr zu Jahr näher rückende
Rußland zu verschaffen, ein Versuch, der anfangs gelingen zu wollen schien,
nach den letzten Nachrichten aber eine bedenkliche Wendung genommen hat und
wenigstens für die nächste Zeit mit allerlei Verlegenheiten droht. In Belgien
gab es das ganze Jahr hindurch heftigen Kampf der ultramontanen Bischöfe
und ihres zahlreichen Anhangs gegen die liberale und die Rechte des Staates
ans die Schule wahrende Regierung. Die Geschichte Italiens im vergangenen
Jahre faßt fich in die Worte zusammen: Finanznoth, Steuerdruck, alle Quar¬
tale neue Minister und der thörichte Lärm einer Anzahl von Brauseköpfen über
die ItMs. irröäsnw. Die Türkei führt fort, zu siechen und in ihrer Politik
zwischen Rußland und England hin und her zu schwanken, sie hatte im Laufe
des Jahres etwa ein halb Dutzend Ministerkrisen und Cabinetswechsel, aber
keiner der Nachfolger der abgesetzten Paschas vermochte es irgendwie besser zu
machen und namentlich der Finanznoth des zerrütteten Staatswesens abzuhelfen.
Das neue Fürstenthum Bulgarien machte die constitutionellen Kinderkrankheiten
durch und wird vermuthlich bei der niedrigen Bildungsstufe, welche auch die
vornehmeren Klassen seiner Bevölkerung einnehmen, noch recht lange daran
leiden, während die unbillige Behandlung der dort und in Ostrumelien leben¬
den Muhamedaner seitens der jetzt herrschenden Rasse ein Grund zu Verwick-


Grenzboten I. 1880. S

tritt seines Nachfolgers wird den Beginn rascheren Bergabgehens bezeichnen.
Die letzten Nachrichten meldeten, daß das Ministerium Waddington seine Ent¬
lassung gefordert und Freycinet vom Präsidenten den Auftrag erhalten, ein
neues Cabinet zu bilde::. Selbst wenn letzterer, ein Mitglied der republikani¬
schen Linken und in Fühlung mit Gambetta, mehrere von den bisherigen Mini¬
stern zu Mitarbeitern unter seiner Leitung gewinnen sollte, wird ein Cabinet
Freycinet unter allen Umständen einen starken Schritt nach links bedeuten. Die
Dinge in Frankreich gleiten in immer mehr beschleunigtem Tempo dem Radi¬
kalismus und mit diesen: der Anarchie der Blanquisten zu. Das einzige Erfreu¬
liche an Frankreich ist, daß die Regierung und die Majorität der Gesetzgebung
ebenfalls den Kampf mit den Ultramontanen aufgenommen hat und ihn bis
jetzt energisch fortzusetzen entschlossen scheint.

Ju Betreff der Völker und Staaten, die nicht Nachbarn Deutschlands sind,
und deren Beziehungen zu unsern Interessen erst in zweiter und dritter Linie
in Betracht kommen, wollen wir uns kurz fassen. In England wurde von der
Partei Gladstones, bisher ohne erheblichen Erfolg, gegen die jetzt am Ruder
befindlichen Tones agitirt, während in Irland die nationalen nach Kräften in
Stadt und Land wühlten. Man führte mit wechselndem Glück, zuletzt nach
einer schweren Niederlage siegreich, Krieg mit den Zulus, und zu gleicher Zeit
versuchte mau sich durch Niederwerfung der Afghanen eine bessere Grenze gegen
das den brittischen Besitzungen in Indien von Jahr zu Jahr näher rückende
Rußland zu verschaffen, ein Versuch, der anfangs gelingen zu wollen schien,
nach den letzten Nachrichten aber eine bedenkliche Wendung genommen hat und
wenigstens für die nächste Zeit mit allerlei Verlegenheiten droht. In Belgien
gab es das ganze Jahr hindurch heftigen Kampf der ultramontanen Bischöfe
und ihres zahlreichen Anhangs gegen die liberale und die Rechte des Staates
ans die Schule wahrende Regierung. Die Geschichte Italiens im vergangenen
Jahre faßt fich in die Worte zusammen: Finanznoth, Steuerdruck, alle Quar¬
tale neue Minister und der thörichte Lärm einer Anzahl von Brauseköpfen über
die ItMs. irröäsnw. Die Türkei führt fort, zu siechen und in ihrer Politik
zwischen Rußland und England hin und her zu schwanken, sie hatte im Laufe
des Jahres etwa ein halb Dutzend Ministerkrisen und Cabinetswechsel, aber
keiner der Nachfolger der abgesetzten Paschas vermochte es irgendwie besser zu
machen und namentlich der Finanznoth des zerrütteten Staatswesens abzuhelfen.
Das neue Fürstenthum Bulgarien machte die constitutionellen Kinderkrankheiten
durch und wird vermuthlich bei der niedrigen Bildungsstufe, welche auch die
vornehmeren Klassen seiner Bevölkerung einnehmen, noch recht lange daran
leiden, während die unbillige Behandlung der dort und in Ostrumelien leben¬
den Muhamedaner seitens der jetzt herrschenden Rasse ein Grund zu Verwick-


Grenzboten I. 1880. S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/17>, abgerufen am 03.07.2024.