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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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brauche alles dessen, was er verdiene, hingeben werde. Um so sicherer müsse
dies zutreffen, da ja unter den Arbeitern die Meinung stark verbreitet sei, daß
eine Art Pflicht für jeden Einzelnen darin bestehe, möglichst viel zu verbrauchen.
Daß aber allgemeine Einrichtungen nach Art der in Aussicht genommenen sofort
einen sehr merkbaren Einfluß ausübten, beweise das Haftpflichtgesetz; denn es
sei notorisch, daß seit Erlaß desselben die Zahl der Unfälle sich relativ ver¬
größert habe, weil die Arbeiter im Bewußtsein der dem Arbeitgeber zufallenden
Entschädigungspflicht leichtsinniger geworden seien. Dieses ganze Raisonnement,
so plausibel es sich anhört, ruht aber doch auf sehr unsicherer Grundlage, selbst
wenn wir davon absehen, daß die angeblich mit dem Hastpflichtgesetze gemachte
Erfahrung bis jetzt mehr auf Behauptungen Einzelner als auf wirklichen nach¬
weisen beruht. Die Annahme, daß ein heute unvorsorglicher Arbeiter dadurch,
daß ein sehr bedeutender Factor eben dieser seiner Unvorsorglichkeit aus dem
Wege geräumt wird, noch unvorsorglicher werden würde, entspricht doch weder
der Logik, noch den auf anderen Gebieten gemachten Erfahrungen, noch den
Vorstellungen von der Güte und Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Natur,
die unsere Zeit doch sonst allenthalben festhält. Man vergesse zweierlei nicht.
Erstens, daß der Arbeiter wie der Mensch überhaupt ein Product der Zeit und
der ihn umgebenden Verhältnisse ist, und daß diese Verhältnisse darnach ange¬
than sind, um es durchaus erklärlich zu machen, wenn der Durchschnittsarbeiter
hoffnungslos und unvorsorglich -- zwei in der That auf dem gleichen Grunde
erwachsende Eigenschaften wird, daß also eine Besserung seiner Verhältnisse
in der Richtung, ihn mit mehr Muth und mehr Lebensfreudigkeit zu erfüllen,
gerade diejenigen Einflüsse z. Th. hinwegräumen würde, welche ihn heute un¬
vorsorglich machen- Zweitens, daß die erstrebte Einrichtung denn doch den
Sinn nicht hat, noch haben kann, den Arbeiter und seine Familie nach allen
Seiten hin auf Rosen zu betten. Immer handelt es sich nur um ganz bestimmte
Lebenslagen, deren Eintritt nachgewiesen werden muß und wohl contrvlirbar
ist, und immer müssen die Leistungen der Anstalt so bescheidene, ja dürftige
bleiben, daß eben nur der bittersten Noth gesteuert ist und eine Verlockung,
diesen Zustand herbeizuführen, schwerlich je in erheblichem Grade eintreten kann.
Berücksichtigt man diese beiden Punkte, so wird man wahrscheinlich zu dem
Resultate gelangen, daß in der That eine starke Chance vorhanden ist, durch
die zu gründende Anstalt nicht nur in äußerlichen Sinne, sondern recht eigent¬
lich von innen heraus, nämlich durch moralische Kräftigung, die sociale Lage
des Arbeiters zu bessern, und daß also auch dieser socialpolitische Gesichtspunkt
mit Recht sür die Idee der Altersversorguugskassen geltend gemacht werden kann.


Julius Schulze.

(Schluß folgt-)




brauche alles dessen, was er verdiene, hingeben werde. Um so sicherer müsse
dies zutreffen, da ja unter den Arbeitern die Meinung stark verbreitet sei, daß
eine Art Pflicht für jeden Einzelnen darin bestehe, möglichst viel zu verbrauchen.
Daß aber allgemeine Einrichtungen nach Art der in Aussicht genommenen sofort
einen sehr merkbaren Einfluß ausübten, beweise das Haftpflichtgesetz; denn es
sei notorisch, daß seit Erlaß desselben die Zahl der Unfälle sich relativ ver¬
größert habe, weil die Arbeiter im Bewußtsein der dem Arbeitgeber zufallenden
Entschädigungspflicht leichtsinniger geworden seien. Dieses ganze Raisonnement,
so plausibel es sich anhört, ruht aber doch auf sehr unsicherer Grundlage, selbst
wenn wir davon absehen, daß die angeblich mit dem Hastpflichtgesetze gemachte
Erfahrung bis jetzt mehr auf Behauptungen Einzelner als auf wirklichen nach¬
weisen beruht. Die Annahme, daß ein heute unvorsorglicher Arbeiter dadurch,
daß ein sehr bedeutender Factor eben dieser seiner Unvorsorglichkeit aus dem
Wege geräumt wird, noch unvorsorglicher werden würde, entspricht doch weder
der Logik, noch den auf anderen Gebieten gemachten Erfahrungen, noch den
Vorstellungen von der Güte und Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Natur,
die unsere Zeit doch sonst allenthalben festhält. Man vergesse zweierlei nicht.
Erstens, daß der Arbeiter wie der Mensch überhaupt ein Product der Zeit und
der ihn umgebenden Verhältnisse ist, und daß diese Verhältnisse darnach ange¬
than sind, um es durchaus erklärlich zu machen, wenn der Durchschnittsarbeiter
hoffnungslos und unvorsorglich — zwei in der That auf dem gleichen Grunde
erwachsende Eigenschaften wird, daß also eine Besserung seiner Verhältnisse
in der Richtung, ihn mit mehr Muth und mehr Lebensfreudigkeit zu erfüllen,
gerade diejenigen Einflüsse z. Th. hinwegräumen würde, welche ihn heute un¬
vorsorglich machen- Zweitens, daß die erstrebte Einrichtung denn doch den
Sinn nicht hat, noch haben kann, den Arbeiter und seine Familie nach allen
Seiten hin auf Rosen zu betten. Immer handelt es sich nur um ganz bestimmte
Lebenslagen, deren Eintritt nachgewiesen werden muß und wohl contrvlirbar
ist, und immer müssen die Leistungen der Anstalt so bescheidene, ja dürftige
bleiben, daß eben nur der bittersten Noth gesteuert ist und eine Verlockung,
diesen Zustand herbeizuführen, schwerlich je in erheblichem Grade eintreten kann.
Berücksichtigt man diese beiden Punkte, so wird man wahrscheinlich zu dem
Resultate gelangen, daß in der That eine starke Chance vorhanden ist, durch
die zu gründende Anstalt nicht nur in äußerlichen Sinne, sondern recht eigent¬
lich von innen heraus, nämlich durch moralische Kräftigung, die sociale Lage
des Arbeiters zu bessern, und daß also auch dieser socialpolitische Gesichtspunkt
mit Recht sür die Idee der Altersversorguugskassen geltend gemacht werden kann.


Julius Schulze.

(Schluß folgt-)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/126>, abgerufen am 22.07.2024.