Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

gezogen wird; und hier liegt der Punkt, wo auch dem Arbeiter gegenüber die
ihm zufallende Mitverantwortlichkeit schärfer betont werden muß. Es ist leider
nur zu notorisch, daß zur Zeit bei unserem Arbeiterstande keine Eigenschaft
schwächer entwickelt ist als die der Vorsorglichkeit für spätere Jahre, und ebenso
dürften alle Urtheilsfähigen darüber einig sein, daß der über das stricte Be¬
dürfniß hinausgehende Verbrauch unserer Arbeiterfamilien nur in den wenigsten
Fällen ein solcher ist, welcher ihrer inneren Tüchtigkeit zu gute kommt, ja in
sehr vielen Fällen nicht einmal ein solcher, der wenigstens ihr äußeres Behagen
im Sinne eines vernünftigen Lebensgenusses erhöht. Es ist somit durchaus be¬
rechtigt, den Gesichtspunkt festzuhalten, daß auf die Heranziehung der entsprechen¬
den Lohnquote zur Herstellung einer allgemeinen Versicherung gegen Arbeits¬
unfähigkeit gehalten werden muß, nöthigen Falls mit den Mitteln einer zwangs¬
weisen Durchführung.

Es ist indessen keineswegs die Meinung der Vertreter unserer Idee, daß
die zu begründenden Anstalten lediglich den Charakter einer Suecursale des
öffentlichen Armenwesens tragen sollen. Wahr ist es, daß das letztere bedeutend
entlastet werden wird, daß man also mit gutem Rechte auch die Gemeinden zu
den Kosten dieser Anstalten mit wird heranziehen können, und wenn es nur
durch die Auferlegung einer kostenlosen Verwaltung, des Einziehens der Beitrüge
und dergl. in. wäre. Im übrigen dürfte der zweite Gesichtspunkt, dessen wir
oben gedachten, der socialpolitische, mindestens ebenso wichtig sein.

Alle Kenner unserer Arbeiterzustäude sind darin einig, daß sie als einen
der schlimmsten Factoren derselben die Hoffnungslosigkeit bezeichnen, unter welcher
der Arbeiterstand seiner großen Masse nach leidet. Selbst der in gutem Lohn
stehende Arbeiter, der -- ohne daß ihm persönlich hieraus ein großer Vor¬
wurf gemacht werden kann -- nicht an strenge Sparsamkeit und an zweck¬
mäßige Verwaltung seiner Ersparnisse gewöhnt ist, sieht, soweit es sein Alter
und die Erziehung seiner Kinder betrifft, durchgehends sehr.trübe in die Zukunft.
Wie groß aber ist nicht die Masse derjenigen Arbeiterfamilien, welche jahraus
jahrein von der Hand in den Mund leben, und welche durch eine Krankheit
oder gar durch den Tod des Ernährers sofort in das bitterste Elend gestürzt
werden -- und zwar wiederum, ohne daß man berechtigt wäre, einen ernst¬
haften Vorwurf gegen ihr Leben und ihre Verwendung des Lohnes zu richten.
Denn es ist unbillig, an die Charakterfestigkeit und moralische Kraft der Menschen
Ansprüche zu erheben, welche über ein bescheidenes Durchschnittsmaß hinaus¬
gehen. An Gelegenheiten, den Arbeiter innerhalb seiner Sphäre zur Vorsorg¬
lichkeit und zur Vermögens-Ansammlung heranzuziehen, fehlt es zwar nicht --
wir erinnern an die Erbauung verkäuflicher Arbeiterhäuser --, aber die Be¬
nutzung solcher Gelegenheiten läßt leider immer noch sehr viel zu wünschen


gezogen wird; und hier liegt der Punkt, wo auch dem Arbeiter gegenüber die
ihm zufallende Mitverantwortlichkeit schärfer betont werden muß. Es ist leider
nur zu notorisch, daß zur Zeit bei unserem Arbeiterstande keine Eigenschaft
schwächer entwickelt ist als die der Vorsorglichkeit für spätere Jahre, und ebenso
dürften alle Urtheilsfähigen darüber einig sein, daß der über das stricte Be¬
dürfniß hinausgehende Verbrauch unserer Arbeiterfamilien nur in den wenigsten
Fällen ein solcher ist, welcher ihrer inneren Tüchtigkeit zu gute kommt, ja in
sehr vielen Fällen nicht einmal ein solcher, der wenigstens ihr äußeres Behagen
im Sinne eines vernünftigen Lebensgenusses erhöht. Es ist somit durchaus be¬
rechtigt, den Gesichtspunkt festzuhalten, daß auf die Heranziehung der entsprechen¬
den Lohnquote zur Herstellung einer allgemeinen Versicherung gegen Arbeits¬
unfähigkeit gehalten werden muß, nöthigen Falls mit den Mitteln einer zwangs¬
weisen Durchführung.

Es ist indessen keineswegs die Meinung der Vertreter unserer Idee, daß
die zu begründenden Anstalten lediglich den Charakter einer Suecursale des
öffentlichen Armenwesens tragen sollen. Wahr ist es, daß das letztere bedeutend
entlastet werden wird, daß man also mit gutem Rechte auch die Gemeinden zu
den Kosten dieser Anstalten mit wird heranziehen können, und wenn es nur
durch die Auferlegung einer kostenlosen Verwaltung, des Einziehens der Beitrüge
und dergl. in. wäre. Im übrigen dürfte der zweite Gesichtspunkt, dessen wir
oben gedachten, der socialpolitische, mindestens ebenso wichtig sein.

Alle Kenner unserer Arbeiterzustäude sind darin einig, daß sie als einen
der schlimmsten Factoren derselben die Hoffnungslosigkeit bezeichnen, unter welcher
der Arbeiterstand seiner großen Masse nach leidet. Selbst der in gutem Lohn
stehende Arbeiter, der — ohne daß ihm persönlich hieraus ein großer Vor¬
wurf gemacht werden kann — nicht an strenge Sparsamkeit und an zweck¬
mäßige Verwaltung seiner Ersparnisse gewöhnt ist, sieht, soweit es sein Alter
und die Erziehung seiner Kinder betrifft, durchgehends sehr.trübe in die Zukunft.
Wie groß aber ist nicht die Masse derjenigen Arbeiterfamilien, welche jahraus
jahrein von der Hand in den Mund leben, und welche durch eine Krankheit
oder gar durch den Tod des Ernährers sofort in das bitterste Elend gestürzt
werden — und zwar wiederum, ohne daß man berechtigt wäre, einen ernst¬
haften Vorwurf gegen ihr Leben und ihre Verwendung des Lohnes zu richten.
Denn es ist unbillig, an die Charakterfestigkeit und moralische Kraft der Menschen
Ansprüche zu erheben, welche über ein bescheidenes Durchschnittsmaß hinaus¬
gehen. An Gelegenheiten, den Arbeiter innerhalb seiner Sphäre zur Vorsorg¬
lichkeit und zur Vermögens-Ansammlung heranzuziehen, fehlt es zwar nicht —
wir erinnern an die Erbauung verkäuflicher Arbeiterhäuser —, aber die Be¬
nutzung solcher Gelegenheiten läßt leider immer noch sehr viel zu wünschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146053"/>
          <p xml:id="ID_303" prev="#ID_302"> gezogen wird; und hier liegt der Punkt, wo auch dem Arbeiter gegenüber die<lb/>
ihm zufallende Mitverantwortlichkeit schärfer betont werden muß. Es ist leider<lb/>
nur zu notorisch, daß zur Zeit bei unserem Arbeiterstande keine Eigenschaft<lb/>
schwächer entwickelt ist als die der Vorsorglichkeit für spätere Jahre, und ebenso<lb/>
dürften alle Urtheilsfähigen darüber einig sein, daß der über das stricte Be¬<lb/>
dürfniß hinausgehende Verbrauch unserer Arbeiterfamilien nur in den wenigsten<lb/>
Fällen ein solcher ist, welcher ihrer inneren Tüchtigkeit zu gute kommt, ja in<lb/>
sehr vielen Fällen nicht einmal ein solcher, der wenigstens ihr äußeres Behagen<lb/>
im Sinne eines vernünftigen Lebensgenusses erhöht. Es ist somit durchaus be¬<lb/>
rechtigt, den Gesichtspunkt festzuhalten, daß auf die Heranziehung der entsprechen¬<lb/>
den Lohnquote zur Herstellung einer allgemeinen Versicherung gegen Arbeits¬<lb/>
unfähigkeit gehalten werden muß, nöthigen Falls mit den Mitteln einer zwangs¬<lb/>
weisen Durchführung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_304"> Es ist indessen keineswegs die Meinung der Vertreter unserer Idee, daß<lb/>
die zu begründenden Anstalten lediglich den Charakter einer Suecursale des<lb/>
öffentlichen Armenwesens tragen sollen. Wahr ist es, daß das letztere bedeutend<lb/>
entlastet werden wird, daß man also mit gutem Rechte auch die Gemeinden zu<lb/>
den Kosten dieser Anstalten mit wird heranziehen können, und wenn es nur<lb/>
durch die Auferlegung einer kostenlosen Verwaltung, des Einziehens der Beitrüge<lb/>
und dergl. in. wäre. Im übrigen dürfte der zweite Gesichtspunkt, dessen wir<lb/>
oben gedachten, der socialpolitische, mindestens ebenso wichtig sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Alle Kenner unserer Arbeiterzustäude sind darin einig, daß sie als einen<lb/>
der schlimmsten Factoren derselben die Hoffnungslosigkeit bezeichnen, unter welcher<lb/>
der Arbeiterstand seiner großen Masse nach leidet. Selbst der in gutem Lohn<lb/>
stehende Arbeiter, der &#x2014; ohne daß ihm persönlich hieraus ein großer Vor¬<lb/>
wurf gemacht werden kann &#x2014; nicht an strenge Sparsamkeit und an zweck¬<lb/>
mäßige Verwaltung seiner Ersparnisse gewöhnt ist, sieht, soweit es sein Alter<lb/>
und die Erziehung seiner Kinder betrifft, durchgehends sehr.trübe in die Zukunft.<lb/>
Wie groß aber ist nicht die Masse derjenigen Arbeiterfamilien, welche jahraus<lb/>
jahrein von der Hand in den Mund leben, und welche durch eine Krankheit<lb/>
oder gar durch den Tod des Ernährers sofort in das bitterste Elend gestürzt<lb/>
werden &#x2014; und zwar wiederum, ohne daß man berechtigt wäre, einen ernst¬<lb/>
haften Vorwurf gegen ihr Leben und ihre Verwendung des Lohnes zu richten.<lb/>
Denn es ist unbillig, an die Charakterfestigkeit und moralische Kraft der Menschen<lb/>
Ansprüche zu erheben, welche über ein bescheidenes Durchschnittsmaß hinaus¬<lb/>
gehen. An Gelegenheiten, den Arbeiter innerhalb seiner Sphäre zur Vorsorg¬<lb/>
lichkeit und zur Vermögens-Ansammlung heranzuziehen, fehlt es zwar nicht &#x2014;<lb/>
wir erinnern an die Erbauung verkäuflicher Arbeiterhäuser &#x2014;, aber die Be¬<lb/>
nutzung solcher Gelegenheiten läßt leider immer noch sehr viel zu wünschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] gezogen wird; und hier liegt der Punkt, wo auch dem Arbeiter gegenüber die ihm zufallende Mitverantwortlichkeit schärfer betont werden muß. Es ist leider nur zu notorisch, daß zur Zeit bei unserem Arbeiterstande keine Eigenschaft schwächer entwickelt ist als die der Vorsorglichkeit für spätere Jahre, und ebenso dürften alle Urtheilsfähigen darüber einig sein, daß der über das stricte Be¬ dürfniß hinausgehende Verbrauch unserer Arbeiterfamilien nur in den wenigsten Fällen ein solcher ist, welcher ihrer inneren Tüchtigkeit zu gute kommt, ja in sehr vielen Fällen nicht einmal ein solcher, der wenigstens ihr äußeres Behagen im Sinne eines vernünftigen Lebensgenusses erhöht. Es ist somit durchaus be¬ rechtigt, den Gesichtspunkt festzuhalten, daß auf die Heranziehung der entsprechen¬ den Lohnquote zur Herstellung einer allgemeinen Versicherung gegen Arbeits¬ unfähigkeit gehalten werden muß, nöthigen Falls mit den Mitteln einer zwangs¬ weisen Durchführung. Es ist indessen keineswegs die Meinung der Vertreter unserer Idee, daß die zu begründenden Anstalten lediglich den Charakter einer Suecursale des öffentlichen Armenwesens tragen sollen. Wahr ist es, daß das letztere bedeutend entlastet werden wird, daß man also mit gutem Rechte auch die Gemeinden zu den Kosten dieser Anstalten mit wird heranziehen können, und wenn es nur durch die Auferlegung einer kostenlosen Verwaltung, des Einziehens der Beitrüge und dergl. in. wäre. Im übrigen dürfte der zweite Gesichtspunkt, dessen wir oben gedachten, der socialpolitische, mindestens ebenso wichtig sein. Alle Kenner unserer Arbeiterzustäude sind darin einig, daß sie als einen der schlimmsten Factoren derselben die Hoffnungslosigkeit bezeichnen, unter welcher der Arbeiterstand seiner großen Masse nach leidet. Selbst der in gutem Lohn stehende Arbeiter, der — ohne daß ihm persönlich hieraus ein großer Vor¬ wurf gemacht werden kann — nicht an strenge Sparsamkeit und an zweck¬ mäßige Verwaltung seiner Ersparnisse gewöhnt ist, sieht, soweit es sein Alter und die Erziehung seiner Kinder betrifft, durchgehends sehr.trübe in die Zukunft. Wie groß aber ist nicht die Masse derjenigen Arbeiterfamilien, welche jahraus jahrein von der Hand in den Mund leben, und welche durch eine Krankheit oder gar durch den Tod des Ernährers sofort in das bitterste Elend gestürzt werden — und zwar wiederum, ohne daß man berechtigt wäre, einen ernst¬ haften Vorwurf gegen ihr Leben und ihre Verwendung des Lohnes zu richten. Denn es ist unbillig, an die Charakterfestigkeit und moralische Kraft der Menschen Ansprüche zu erheben, welche über ein bescheidenes Durchschnittsmaß hinaus¬ gehen. An Gelegenheiten, den Arbeiter innerhalb seiner Sphäre zur Vorsorg¬ lichkeit und zur Vermögens-Ansammlung heranzuziehen, fehlt es zwar nicht — wir erinnern an die Erbauung verkäuflicher Arbeiterhäuser —, aber die Be¬ nutzung solcher Gelegenheiten läßt leider immer noch sehr viel zu wünschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/124>, abgerufen am 25.08.2024.