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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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von Arbeitern ins Leben gerufen worden. Ja auf einem einzelnen Arbeitsgebiete,
im Bergbau, ist schon seit Menschenaltern durch die unter staatlicher Verwal¬
tung stehenden oder auf Verlangen des Staats gegründeten "Knappschaftskassen"
nicht nur für Krankheitsfälle, sondern auch für Alters- und Wittwenversorgung
in einer nach mancher Seite hin mustergiltigen Weise Sorge getragen worden.
Neuerdings ist auch eine Art Staatsanstalt ins Leben getreten, welche, ähnlich
wie die französischen und belgischen cnisLss as rstraits, dem Arbeiter die Mög¬
lichkeit zu vortheilhaftem und wohl garantirten Einkauf in eine Versicherungs¬
anstalt eröffnen: die Wilhelmsspende. Aber über alles dies hinaus macht sich
doch in neuester Zeit der Gedanke geltend, daß gerade diese Seite der Ver¬
sicherung eine allgemeine, möglichst die gesammte Arbeiterschaft oder doch einen
überwiegenden Theil derselben umfassende Regelung finden sollte, weil das
derselben entsprechende Bedürfniß eben ein allgemeines und ein folches sei,
welches ohne schwerste Gefährdung unserer socialen Verhältnisse nicht länger
vernachlässigt bleiben dürfe. Namentlich zwei Gesichtspunkte sind es, welche
hierfür geltend gemacht werden: ein armenrechtlicher und ein socialpolitischer.

Unsere gegenwärtige Niederlassuugs-Gesetzgebung hat zwar das Heimatrecht
beseitigt, aber sie hat die Pflicht der Armenversorgung festgehalten und dieselbe
nur von den Heimatgemeinden auf diejenigen Gemeinden übergewälzt, in denen
die zu Unterstützenden durch zweijährigen Aufenthalt den sogenannten "Unter-
stützungswohnsitz" erworben haben. Wir lassen die Frage, in wie weit 1) der
Grundsatz der absoluten Unterstützungspflicht ein richtiger, 2) die gänzliche Be¬
seitigung des Heimatrechts nothwendig oder zweckmüßig, 3) die Frist zur
Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes eine richtig gegriffene war, hier auf sich
beruhen; wir für unsern Theil beantworten alle drei Fragen in verneinenden
Sinne und hoffen, daß die bevorstehenden Umgestaltungen seither in Kraft gewe¬
sener Wirthschafts- und socialpolitischer Gesetze auch diesen Punkt treffen werden.
Mag man aber jene Fragen beantworten, wie man will, so wird doch kaum ein
Urtheilsfähiger in Abrede stellen, daß die den Gemeinden aufgebürdete Last der
Sorge für Arbeitsunfähige sowie für Wittwe:: und Kinder vermögenslos Ge¬
storbener der richtigen Ausgleichung nach zwei Seiten hin entbehrt: einerseits
den: Arbeitgeber und zwar insbesondere den: Fabrikbesitzer, andrerseits auch
dein Arbeiter gegenüber.

Auch der eifrigste Anhänger der ungehemmten industriellen Entwicklung
und der schrankenlosen Freizügigkeit wird nicht bestreiten, daß die Verantwort¬
lichkeit der Fabrikbesitzer für den socialen Einfluß, den die rücksichtslos von
ihnen zusammengetriebenen Massen von Arbeitern ausüben, bez. dem diese
Arbeiter selbst unterliegen, bisher so gut wie gar nicht ihren Ausdruck gefunden
hat. Mochten diese Massen noch so sehr aus geordneten Zuständen herausgerissen


Grenzboten I. Is

von Arbeitern ins Leben gerufen worden. Ja auf einem einzelnen Arbeitsgebiete,
im Bergbau, ist schon seit Menschenaltern durch die unter staatlicher Verwal¬
tung stehenden oder auf Verlangen des Staats gegründeten „Knappschaftskassen"
nicht nur für Krankheitsfälle, sondern auch für Alters- und Wittwenversorgung
in einer nach mancher Seite hin mustergiltigen Weise Sorge getragen worden.
Neuerdings ist auch eine Art Staatsanstalt ins Leben getreten, welche, ähnlich
wie die französischen und belgischen cnisLss as rstraits, dem Arbeiter die Mög¬
lichkeit zu vortheilhaftem und wohl garantirten Einkauf in eine Versicherungs¬
anstalt eröffnen: die Wilhelmsspende. Aber über alles dies hinaus macht sich
doch in neuester Zeit der Gedanke geltend, daß gerade diese Seite der Ver¬
sicherung eine allgemeine, möglichst die gesammte Arbeiterschaft oder doch einen
überwiegenden Theil derselben umfassende Regelung finden sollte, weil das
derselben entsprechende Bedürfniß eben ein allgemeines und ein folches sei,
welches ohne schwerste Gefährdung unserer socialen Verhältnisse nicht länger
vernachlässigt bleiben dürfe. Namentlich zwei Gesichtspunkte sind es, welche
hierfür geltend gemacht werden: ein armenrechtlicher und ein socialpolitischer.

Unsere gegenwärtige Niederlassuugs-Gesetzgebung hat zwar das Heimatrecht
beseitigt, aber sie hat die Pflicht der Armenversorgung festgehalten und dieselbe
nur von den Heimatgemeinden auf diejenigen Gemeinden übergewälzt, in denen
die zu Unterstützenden durch zweijährigen Aufenthalt den sogenannten „Unter-
stützungswohnsitz" erworben haben. Wir lassen die Frage, in wie weit 1) der
Grundsatz der absoluten Unterstützungspflicht ein richtiger, 2) die gänzliche Be¬
seitigung des Heimatrechts nothwendig oder zweckmüßig, 3) die Frist zur
Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes eine richtig gegriffene war, hier auf sich
beruhen; wir für unsern Theil beantworten alle drei Fragen in verneinenden
Sinne und hoffen, daß die bevorstehenden Umgestaltungen seither in Kraft gewe¬
sener Wirthschafts- und socialpolitischer Gesetze auch diesen Punkt treffen werden.
Mag man aber jene Fragen beantworten, wie man will, so wird doch kaum ein
Urtheilsfähiger in Abrede stellen, daß die den Gemeinden aufgebürdete Last der
Sorge für Arbeitsunfähige sowie für Wittwe:: und Kinder vermögenslos Ge¬
storbener der richtigen Ausgleichung nach zwei Seiten hin entbehrt: einerseits
den: Arbeitgeber und zwar insbesondere den: Fabrikbesitzer, andrerseits auch
dein Arbeiter gegenüber.

Auch der eifrigste Anhänger der ungehemmten industriellen Entwicklung
und der schrankenlosen Freizügigkeit wird nicht bestreiten, daß die Verantwort¬
lichkeit der Fabrikbesitzer für den socialen Einfluß, den die rücksichtslos von
ihnen zusammengetriebenen Massen von Arbeitern ausüben, bez. dem diese
Arbeiter selbst unterliegen, bisher so gut wie gar nicht ihren Ausdruck gefunden
hat. Mochten diese Massen noch so sehr aus geordneten Zuständen herausgerissen


Grenzboten I. Is
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[0121] von Arbeitern ins Leben gerufen worden. Ja auf einem einzelnen Arbeitsgebiete, im Bergbau, ist schon seit Menschenaltern durch die unter staatlicher Verwal¬ tung stehenden oder auf Verlangen des Staats gegründeten „Knappschaftskassen" nicht nur für Krankheitsfälle, sondern auch für Alters- und Wittwenversorgung in einer nach mancher Seite hin mustergiltigen Weise Sorge getragen worden. Neuerdings ist auch eine Art Staatsanstalt ins Leben getreten, welche, ähnlich wie die französischen und belgischen cnisLss as rstraits, dem Arbeiter die Mög¬ lichkeit zu vortheilhaftem und wohl garantirten Einkauf in eine Versicherungs¬ anstalt eröffnen: die Wilhelmsspende. Aber über alles dies hinaus macht sich doch in neuester Zeit der Gedanke geltend, daß gerade diese Seite der Ver¬ sicherung eine allgemeine, möglichst die gesammte Arbeiterschaft oder doch einen überwiegenden Theil derselben umfassende Regelung finden sollte, weil das derselben entsprechende Bedürfniß eben ein allgemeines und ein folches sei, welches ohne schwerste Gefährdung unserer socialen Verhältnisse nicht länger vernachlässigt bleiben dürfe. Namentlich zwei Gesichtspunkte sind es, welche hierfür geltend gemacht werden: ein armenrechtlicher und ein socialpolitischer. Unsere gegenwärtige Niederlassuugs-Gesetzgebung hat zwar das Heimatrecht beseitigt, aber sie hat die Pflicht der Armenversorgung festgehalten und dieselbe nur von den Heimatgemeinden auf diejenigen Gemeinden übergewälzt, in denen die zu Unterstützenden durch zweijährigen Aufenthalt den sogenannten „Unter- stützungswohnsitz" erworben haben. Wir lassen die Frage, in wie weit 1) der Grundsatz der absoluten Unterstützungspflicht ein richtiger, 2) die gänzliche Be¬ seitigung des Heimatrechts nothwendig oder zweckmüßig, 3) die Frist zur Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes eine richtig gegriffene war, hier auf sich beruhen; wir für unsern Theil beantworten alle drei Fragen in verneinenden Sinne und hoffen, daß die bevorstehenden Umgestaltungen seither in Kraft gewe¬ sener Wirthschafts- und socialpolitischer Gesetze auch diesen Punkt treffen werden. Mag man aber jene Fragen beantworten, wie man will, so wird doch kaum ein Urtheilsfähiger in Abrede stellen, daß die den Gemeinden aufgebürdete Last der Sorge für Arbeitsunfähige sowie für Wittwe:: und Kinder vermögenslos Ge¬ storbener der richtigen Ausgleichung nach zwei Seiten hin entbehrt: einerseits den: Arbeitgeber und zwar insbesondere den: Fabrikbesitzer, andrerseits auch dein Arbeiter gegenüber. Auch der eifrigste Anhänger der ungehemmten industriellen Entwicklung und der schrankenlosen Freizügigkeit wird nicht bestreiten, daß die Verantwort¬ lichkeit der Fabrikbesitzer für den socialen Einfluß, den die rücksichtslos von ihnen zusammengetriebenen Massen von Arbeitern ausüben, bez. dem diese Arbeiter selbst unterliegen, bisher so gut wie gar nicht ihren Ausdruck gefunden hat. Mochten diese Massen noch so sehr aus geordneten Zuständen herausgerissen Grenzboten I. Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/121>, abgerufen am 22.07.2024.