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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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über, kommt gleichsam auf dem Nullpunkt der Empfindungslosigkeit an, der
auf die Dauer schwer zu ertragen ist und dessen Gleichförmigkeit eine Unter¬
brechung wünschenswert!) macht. Selbstverständlich geht der Wunsch nach der
Richtung, daß die ersehnte Empfindung ein Wohlgefühl ist. Diese tritt dann
eil?, wenn eine Steigerung der Empfindung stattfindet. Geschieht diese Steige¬
rung von dem Nullpunkte ans, auswärts durch Hervorrufung eines neu hin¬
zukommenden Wonnegefühls, so tritt als Schlußempfindung ein Zurücksinken
auf den ursprünglichen Zustand ein: auf die erhöhte Empfindung folgt eine Er¬
mattung, wie es nach jeder Steigerung des körperlichen Wohlempfindens über
den gewöhnlichen Grad des nicht mehr als besonders Gefühl zum Bewußtsein
kommenden Empfindungszustandes hinaus thatsächlich der Fall ist. Geschieht
aber die Steigerung so, daß sie von einem Punkte unterhalb des Nullpunktes
der Empfindung begonnen wird, daß sie also in der Wiedererlangung des ur¬
sprünglichen Zustandes besteht, so macht sich diese Wiedererlangung als Wonne¬
gefühl geltend, und die Schlußempfindung des ganzen Vorganges ist nicht die
der Ermattung, sondern die der Erhöhung, die eines positiven Wohlgefühls.
Will man ein solches Wohlgefühl hervorbringen, statt darauf zu warten, bis es
sich gelegentlich der Lebensfunctionen von selbst hie und da einstellt, so muß
das Niveau der Empfindung herabgedrückt werden, damit ans diese absichtliche
Herabsetzung eine naturgemäß folgende und sich als Schlußempfiudung des Vor¬
gangs geltend machende Steigerung der Empfindung einstellt und damit durch
die Wiedererlangung des ursprünglichen Zustandes dieser selbst als Wohlgefühl
zum Bewußtsein kommt. Bezeichnen wir die durch dies Herabdrücken entstandene
unangenehme Empfindung ohne Berücksichtigung des geringeren oder höheren
Grades mit dem allgemeinen Ausdruck Schmerz, so ergiebt sich die absichtliche
vorübergehende Schmerzerregung als Mittel zur Erzeugung einer Wohlempfin¬
dung, welche die natürliche Folge der Befreiung vom Schmerze ist, und auf
welche kein Ermatten folgt, sondern die ohne ein solches allmählich zum ge¬
wöhnlichen Zustande wird und dadurch aus dem Bewußtsein schwindet. Dieses
Mittel wirkt so sicher, daß wir es sogar benutzen, um uns zeitweilig über einen
Schmerz hinauszutäuscheu. Sind wir von einem solchen gequält, so erregen
wir absichtlich einen sich momentan vordrängenden kleineren Schmerz, dessen
Nachlassen sich als Wohlempfindung geltend macht, in Folge deren der ursprüng¬
liche Schmerz kurze Zeit nicht empfunden wird; er tritt erst dann wieder in
sein Recht, wenn der schwindende kleinere Schmerz in den ursprünglichen Zu¬
stand übergegangen ist. Als Resultat ergiebt sich aus dieser Betrachtung, daß
allerdings die Erregung des Schmerzes ein Mittel zur Erweckung eines Wohl¬
gefühls sein kann und in diesem Falle eine Freude am Schmerz um seiner
Folgen willen begreiflich erscheint.


über, kommt gleichsam auf dem Nullpunkt der Empfindungslosigkeit an, der
auf die Dauer schwer zu ertragen ist und dessen Gleichförmigkeit eine Unter¬
brechung wünschenswert!) macht. Selbstverständlich geht der Wunsch nach der
Richtung, daß die ersehnte Empfindung ein Wohlgefühl ist. Diese tritt dann
eil?, wenn eine Steigerung der Empfindung stattfindet. Geschieht diese Steige¬
rung von dem Nullpunkte ans, auswärts durch Hervorrufung eines neu hin¬
zukommenden Wonnegefühls, so tritt als Schlußempfindung ein Zurücksinken
auf den ursprünglichen Zustand ein: auf die erhöhte Empfindung folgt eine Er¬
mattung, wie es nach jeder Steigerung des körperlichen Wohlempfindens über
den gewöhnlichen Grad des nicht mehr als besonders Gefühl zum Bewußtsein
kommenden Empfindungszustandes hinaus thatsächlich der Fall ist. Geschieht
aber die Steigerung so, daß sie von einem Punkte unterhalb des Nullpunktes
der Empfindung begonnen wird, daß sie also in der Wiedererlangung des ur¬
sprünglichen Zustandes besteht, so macht sich diese Wiedererlangung als Wonne¬
gefühl geltend, und die Schlußempfindung des ganzen Vorganges ist nicht die
der Ermattung, sondern die der Erhöhung, die eines positiven Wohlgefühls.
Will man ein solches Wohlgefühl hervorbringen, statt darauf zu warten, bis es
sich gelegentlich der Lebensfunctionen von selbst hie und da einstellt, so muß
das Niveau der Empfindung herabgedrückt werden, damit ans diese absichtliche
Herabsetzung eine naturgemäß folgende und sich als Schlußempfiudung des Vor¬
gangs geltend machende Steigerung der Empfindung einstellt und damit durch
die Wiedererlangung des ursprünglichen Zustandes dieser selbst als Wohlgefühl
zum Bewußtsein kommt. Bezeichnen wir die durch dies Herabdrücken entstandene
unangenehme Empfindung ohne Berücksichtigung des geringeren oder höheren
Grades mit dem allgemeinen Ausdruck Schmerz, so ergiebt sich die absichtliche
vorübergehende Schmerzerregung als Mittel zur Erzeugung einer Wohlempfin¬
dung, welche die natürliche Folge der Befreiung vom Schmerze ist, und auf
welche kein Ermatten folgt, sondern die ohne ein solches allmählich zum ge¬
wöhnlichen Zustande wird und dadurch aus dem Bewußtsein schwindet. Dieses
Mittel wirkt so sicher, daß wir es sogar benutzen, um uns zeitweilig über einen
Schmerz hinauszutäuscheu. Sind wir von einem solchen gequält, so erregen
wir absichtlich einen sich momentan vordrängenden kleineren Schmerz, dessen
Nachlassen sich als Wohlempfindung geltend macht, in Folge deren der ursprüng¬
liche Schmerz kurze Zeit nicht empfunden wird; er tritt erst dann wieder in
sein Recht, wenn der schwindende kleinere Schmerz in den ursprünglichen Zu¬
stand übergegangen ist. Als Resultat ergiebt sich aus dieser Betrachtung, daß
allerdings die Erregung des Schmerzes ein Mittel zur Erweckung eines Wohl¬
gefühls sein kann und in diesem Falle eine Freude am Schmerz um seiner
Folgen willen begreiflich erscheint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/81>, abgerufen am 03.07.2024.