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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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der weiblichen Natur in einer Frau zu erkennen meinte, lehren uns die Wal¬
küren, die zeitweilig die Gestalt eines Schwanes annehmen konnten. Dieselben
lieblichen Schwcmenjungfrauen, die ihren schönen Leib den dunkeln Waldseen
anvertrauten, dachte man sich ein andermal in vollem kriegerischem Schmuck auf
weißen Rossen als wilde Schlachtmädchen durch die Lüfte jagend (vgl. Jacob
Grimm, Deutsche Mythologie 4. Aufl. I, S. 354; K. Weinhold,Die deutschen Frauen
im Mittelalter, S. 40). Eine ähnliche Anschauung liegt auch der Vvlundar-
kvida, dem eddischen Liede von Wieland dem Schmied, zu Grunde. Wenn hier
die drei Schwanenjungfrauen, deren sich Wieland und seine Brüder bemächtigen,
nach sieben friedlich verlebten Wintern ihren Räubern entfliehen, von Sehnsucht
nach dem altgewohnten kriegerischen Handwerk getrieben, so muß Scherer die
sich in dieser Sage kundgebende Verschmelzung der beiden nach seiner Ansicht
von Haus aus getrennten Naturen als eine jüngere Entwicklungsphase ansehen.
Ihr müßten dann auch Namen wie "Svanhilt" oder "Svanlaug" ihre Ent¬
stehung verdanken, in denen zwei ursprünglich unvereinbare Charakterformen
durch Zusammensetzung zu einem Namen verbunden erscheinen.

Durch diese Betrachtungen glauben wir keineswegs die Scherersche Hypo¬
these entkräftet zu haben; wir wollen nur uuserem Bedenken gegen die Form, in
der sie auftritt, Ausdruck geben. Mehr überzeugende Kraft für die vermutheten
uralten Wandlungen sittlicher Ansichten wohnt nach unserem Dafürhalten der
sinnreichen Deutung des Sonnenmythus (S. 11) inne.

Nur spärlich klingen in der geschriebenen Literatur Töne altheidnischer
Dichtung nach. Mit ihr theilte auch die älteste christliche Poesie die äußere
Form, den stabreimenden Vers. In der kurzen Erörterung über die Allitteration
vermissen wir die Verwerthung der Wackernagel-Müllenhoffschen Hypothese, welche
aus Tacitus' Beschreibung der germanischen Weissagungen durchs Los und ver¬
mittelst hinzutretender Worterklärung eine Reihe hochinteressanter auteur- und
sprachgeschichtlicher Thatsachen in das hellste Licht gerückt hat. Die einschlägige
Literatur findet sich in Wackernagels Literaturgeschichte (zweite Auflage, besorgt
von Ernst Martin 1879, Z. 4), sorgfältig verzeichnet.

Neben dem Chorgesang wird der varäiws erwähnt, "welcher den Donner¬
ruf, die Bartrede des Gottes Donar nachahmt". Es ist dies die in der "Zeit¬
schrift für Deutsches Alterthum" (9, 242) in Aussicht gestellte neue Deutung
des Taciteischen Ausdruckes, deren Begründung auch weiteren Kreisen deutscher
Historiker und Alterthumsforscher hoffentlich nicht mehr lange vorenthalten
bleiben wird. Nicht allein mit dieser Etymologie, sondern auch sonst ruht
Scherers Darstellung in diesem Abschnitt vorzugsweise auf den umfassenden
Forschungen Müllenhoffs. Auch verschiedene dramatische Gestaltungen mythischer
Stoffe lernen wir hier kennen, neben der chorischen Poesie: Liebeslieder, Räthsel,


der weiblichen Natur in einer Frau zu erkennen meinte, lehren uns die Wal¬
küren, die zeitweilig die Gestalt eines Schwanes annehmen konnten. Dieselben
lieblichen Schwcmenjungfrauen, die ihren schönen Leib den dunkeln Waldseen
anvertrauten, dachte man sich ein andermal in vollem kriegerischem Schmuck auf
weißen Rossen als wilde Schlachtmädchen durch die Lüfte jagend (vgl. Jacob
Grimm, Deutsche Mythologie 4. Aufl. I, S. 354; K. Weinhold,Die deutschen Frauen
im Mittelalter, S. 40). Eine ähnliche Anschauung liegt auch der Vvlundar-
kvida, dem eddischen Liede von Wieland dem Schmied, zu Grunde. Wenn hier
die drei Schwanenjungfrauen, deren sich Wieland und seine Brüder bemächtigen,
nach sieben friedlich verlebten Wintern ihren Räubern entfliehen, von Sehnsucht
nach dem altgewohnten kriegerischen Handwerk getrieben, so muß Scherer die
sich in dieser Sage kundgebende Verschmelzung der beiden nach seiner Ansicht
von Haus aus getrennten Naturen als eine jüngere Entwicklungsphase ansehen.
Ihr müßten dann auch Namen wie „Svanhilt" oder „Svanlaug" ihre Ent¬
stehung verdanken, in denen zwei ursprünglich unvereinbare Charakterformen
durch Zusammensetzung zu einem Namen verbunden erscheinen.

Durch diese Betrachtungen glauben wir keineswegs die Scherersche Hypo¬
these entkräftet zu haben; wir wollen nur uuserem Bedenken gegen die Form, in
der sie auftritt, Ausdruck geben. Mehr überzeugende Kraft für die vermutheten
uralten Wandlungen sittlicher Ansichten wohnt nach unserem Dafürhalten der
sinnreichen Deutung des Sonnenmythus (S. 11) inne.

Nur spärlich klingen in der geschriebenen Literatur Töne altheidnischer
Dichtung nach. Mit ihr theilte auch die älteste christliche Poesie die äußere
Form, den stabreimenden Vers. In der kurzen Erörterung über die Allitteration
vermissen wir die Verwerthung der Wackernagel-Müllenhoffschen Hypothese, welche
aus Tacitus' Beschreibung der germanischen Weissagungen durchs Los und ver¬
mittelst hinzutretender Worterklärung eine Reihe hochinteressanter auteur- und
sprachgeschichtlicher Thatsachen in das hellste Licht gerückt hat. Die einschlägige
Literatur findet sich in Wackernagels Literaturgeschichte (zweite Auflage, besorgt
von Ernst Martin 1879, Z. 4), sorgfältig verzeichnet.

Neben dem Chorgesang wird der varäiws erwähnt, „welcher den Donner¬
ruf, die Bartrede des Gottes Donar nachahmt". Es ist dies die in der „Zeit¬
schrift für Deutsches Alterthum" (9, 242) in Aussicht gestellte neue Deutung
des Taciteischen Ausdruckes, deren Begründung auch weiteren Kreisen deutscher
Historiker und Alterthumsforscher hoffentlich nicht mehr lange vorenthalten
bleiben wird. Nicht allein mit dieser Etymologie, sondern auch sonst ruht
Scherers Darstellung in diesem Abschnitt vorzugsweise auf den umfassenden
Forschungen Müllenhoffs. Auch verschiedene dramatische Gestaltungen mythischer
Stoffe lernen wir hier kennen, neben der chorischen Poesie: Liebeslieder, Räthsel,


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[0562] der weiblichen Natur in einer Frau zu erkennen meinte, lehren uns die Wal¬ küren, die zeitweilig die Gestalt eines Schwanes annehmen konnten. Dieselben lieblichen Schwcmenjungfrauen, die ihren schönen Leib den dunkeln Waldseen anvertrauten, dachte man sich ein andermal in vollem kriegerischem Schmuck auf weißen Rossen als wilde Schlachtmädchen durch die Lüfte jagend (vgl. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie 4. Aufl. I, S. 354; K. Weinhold,Die deutschen Frauen im Mittelalter, S. 40). Eine ähnliche Anschauung liegt auch der Vvlundar- kvida, dem eddischen Liede von Wieland dem Schmied, zu Grunde. Wenn hier die drei Schwanenjungfrauen, deren sich Wieland und seine Brüder bemächtigen, nach sieben friedlich verlebten Wintern ihren Räubern entfliehen, von Sehnsucht nach dem altgewohnten kriegerischen Handwerk getrieben, so muß Scherer die sich in dieser Sage kundgebende Verschmelzung der beiden nach seiner Ansicht von Haus aus getrennten Naturen als eine jüngere Entwicklungsphase ansehen. Ihr müßten dann auch Namen wie „Svanhilt" oder „Svanlaug" ihre Ent¬ stehung verdanken, in denen zwei ursprünglich unvereinbare Charakterformen durch Zusammensetzung zu einem Namen verbunden erscheinen. Durch diese Betrachtungen glauben wir keineswegs die Scherersche Hypo¬ these entkräftet zu haben; wir wollen nur uuserem Bedenken gegen die Form, in der sie auftritt, Ausdruck geben. Mehr überzeugende Kraft für die vermutheten uralten Wandlungen sittlicher Ansichten wohnt nach unserem Dafürhalten der sinnreichen Deutung des Sonnenmythus (S. 11) inne. Nur spärlich klingen in der geschriebenen Literatur Töne altheidnischer Dichtung nach. Mit ihr theilte auch die älteste christliche Poesie die äußere Form, den stabreimenden Vers. In der kurzen Erörterung über die Allitteration vermissen wir die Verwerthung der Wackernagel-Müllenhoffschen Hypothese, welche aus Tacitus' Beschreibung der germanischen Weissagungen durchs Los und ver¬ mittelst hinzutretender Worterklärung eine Reihe hochinteressanter auteur- und sprachgeschichtlicher Thatsachen in das hellste Licht gerückt hat. Die einschlägige Literatur findet sich in Wackernagels Literaturgeschichte (zweite Auflage, besorgt von Ernst Martin 1879, Z. 4), sorgfältig verzeichnet. Neben dem Chorgesang wird der varäiws erwähnt, „welcher den Donner¬ ruf, die Bartrede des Gottes Donar nachahmt". Es ist dies die in der „Zeit¬ schrift für Deutsches Alterthum" (9, 242) in Aussicht gestellte neue Deutung des Taciteischen Ausdruckes, deren Begründung auch weiteren Kreisen deutscher Historiker und Alterthumsforscher hoffentlich nicht mehr lange vorenthalten bleiben wird. Nicht allein mit dieser Etymologie, sondern auch sonst ruht Scherers Darstellung in diesem Abschnitt vorzugsweise auf den umfassenden Forschungen Müllenhoffs. Auch verschiedene dramatische Gestaltungen mythischer Stoffe lernen wir hier kennen, neben der chorischen Poesie: Liebeslieder, Räthsel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/562>, abgerufen am 22.07.2024.