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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Das vorliegende erste Heft seiner "Literaturgeschichte" entspricht denn auch
vollständig den hohen Anforderungen, mit denen man an das Werk eines so
wohlgerüsteten Baumeisters herantritt. Es ist nicht leicht, von der Fülle des
Inhalts, der uns auf diesen 80 Seiten geboten wird, einen Begriff zu geben.

In freier, schöner Darstellung wird uns im ersten Capitel das Leben der
alten Germanen vorgeführt, indem die wesentlichen Züge der beiden Hauptbe¬
richterstatter, des Cäsar und des Taeitus, sich zu einem vollen, runden Bilde
verschmelzen, nicht ohne daß die grundverschiedene Art und Tendenz ihrer Auf¬
zeichnungen dem Leser mit genügender Schärfe zum Bewußtsein käme. In der
ersten Unterabtheilung "Die Arier" sucht der Verfasser den Hintergrund zu gewinnen
für die trümmerhaften Ueberlieferungen der altgermanischen Religion, sowie für
die spärlichen Rechte der ältesten Dichtung. Um feststellen zu können, was der
germanische Stamm aus den durch die vergleichende Sprach- und Religions¬
wissenschaft mäßig erhellten Urschachten gemeinsamer Mythologie und Poesie von
der asiatischen Heimat mit in die neuen Wohnsitze gebracht hat, beobachten wir
die arische Mythenbildung, das Schöpfen der ihnen zu Grunde liegenden Thaten
und Vorstellungen aus den menschlichen Verhältnissen der nächsten Umgebung.
Aus demselben Grunde interessirt uns hier auch die Entstehung der den ver¬
wandten Völkern gemeinsamen poetischen Motive und Dichtungsgattungen. So
ist wohl das Motiv des unbesiegbaren, schließlich aber doch durch Verrath
an der einzigen verwundbare" Stelle zum Tode getroffenen Helden Siegfrid,
oder der tragische Kampf zwischen Vater und Sohn (Hildebrand und Hadu-
brand) als Erbe arischen Lebens anzusehen. Nicht minder hat der ursprünglich
vorwiegend religiöse Masseugesang, der unter dem Namen "chorische Poesie" von
Müllenhosf eingehend behandelt worden ist, seine Wurzel in der Urheimat, und
mit ihm der altgermanische viermal gehobene Halbvers, sowie die ältesten, aus
ihm sich zusammensetzenden strophischen Gebilde.

Bei Behandlung der germanischen Religion hat Scherer mit rühmens¬
werther Enthaltsamkeit darauf verzichtet, die isländische Götterwelt, die wir aus
weit jüngerer literarischer Ueberlieferung kennen, in die altgermanische Zeit zu¬
rückzuversetzen. Es werden drei Epochen der germanischen Religionsgeschichte
unterschieden. In der ersten wurde der Himmel als oberster Gott verehrt: der
germanische Tiu entspricht genau dem Djaus der Inder, dem Zeus der Griechen;
in der zweiten beschränkte sich dessen Cult mehr und mehr auf die Suchen, die
wohl ursprünglich an der mittleren Elbe saßen, während die übrigen sich von
dort abzweigenden Stämme ihre besonderen Lieblingsgötter verehrten. Diese
religiöse Einheit der Stämme, die wir aus lückenhaften Nachrichten zu erkennen
glauben -- es ist ein viel umstrittener Punkt der germanischen Alterthums¬
kunde -- haben wir uus wohl ähnlich den griechischen Amphiktyonien zu


Das vorliegende erste Heft seiner „Literaturgeschichte" entspricht denn auch
vollständig den hohen Anforderungen, mit denen man an das Werk eines so
wohlgerüsteten Baumeisters herantritt. Es ist nicht leicht, von der Fülle des
Inhalts, der uns auf diesen 80 Seiten geboten wird, einen Begriff zu geben.

In freier, schöner Darstellung wird uns im ersten Capitel das Leben der
alten Germanen vorgeführt, indem die wesentlichen Züge der beiden Hauptbe¬
richterstatter, des Cäsar und des Taeitus, sich zu einem vollen, runden Bilde
verschmelzen, nicht ohne daß die grundverschiedene Art und Tendenz ihrer Auf¬
zeichnungen dem Leser mit genügender Schärfe zum Bewußtsein käme. In der
ersten Unterabtheilung „Die Arier" sucht der Verfasser den Hintergrund zu gewinnen
für die trümmerhaften Ueberlieferungen der altgermanischen Religion, sowie für
die spärlichen Rechte der ältesten Dichtung. Um feststellen zu können, was der
germanische Stamm aus den durch die vergleichende Sprach- und Religions¬
wissenschaft mäßig erhellten Urschachten gemeinsamer Mythologie und Poesie von
der asiatischen Heimat mit in die neuen Wohnsitze gebracht hat, beobachten wir
die arische Mythenbildung, das Schöpfen der ihnen zu Grunde liegenden Thaten
und Vorstellungen aus den menschlichen Verhältnissen der nächsten Umgebung.
Aus demselben Grunde interessirt uns hier auch die Entstehung der den ver¬
wandten Völkern gemeinsamen poetischen Motive und Dichtungsgattungen. So
ist wohl das Motiv des unbesiegbaren, schließlich aber doch durch Verrath
an der einzigen verwundbare» Stelle zum Tode getroffenen Helden Siegfrid,
oder der tragische Kampf zwischen Vater und Sohn (Hildebrand und Hadu-
brand) als Erbe arischen Lebens anzusehen. Nicht minder hat der ursprünglich
vorwiegend religiöse Masseugesang, der unter dem Namen „chorische Poesie" von
Müllenhosf eingehend behandelt worden ist, seine Wurzel in der Urheimat, und
mit ihm der altgermanische viermal gehobene Halbvers, sowie die ältesten, aus
ihm sich zusammensetzenden strophischen Gebilde.

Bei Behandlung der germanischen Religion hat Scherer mit rühmens¬
werther Enthaltsamkeit darauf verzichtet, die isländische Götterwelt, die wir aus
weit jüngerer literarischer Ueberlieferung kennen, in die altgermanische Zeit zu¬
rückzuversetzen. Es werden drei Epochen der germanischen Religionsgeschichte
unterschieden. In der ersten wurde der Himmel als oberster Gott verehrt: der
germanische Tiu entspricht genau dem Djaus der Inder, dem Zeus der Griechen;
in der zweiten beschränkte sich dessen Cult mehr und mehr auf die Suchen, die
wohl ursprünglich an der mittleren Elbe saßen, während die übrigen sich von
dort abzweigenden Stämme ihre besonderen Lieblingsgötter verehrten. Diese
religiöse Einheit der Stämme, die wir aus lückenhaften Nachrichten zu erkennen
glauben — es ist ein viel umstrittener Punkt der germanischen Alterthums¬
kunde — haben wir uus wohl ähnlich den griechischen Amphiktyonien zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/560>, abgerufen am 03.07.2024.