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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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sie selbst vermeintlich zu Objecten unseres Bewußtseins werden, für immer
den Boden entzog. Sie konnte nachweisen, daß Licht und Farben, die unserem
innern Bewußtseinsauge erscheinen, keineswegs durch Licht und Farben einer
Außenwelt entstehen, sich wandeln, sich steigern, abnehmen, ebenso wenig wie
die Töne innen durch Tone außen, die Wärme innen durch Wärme außen
u. s. w., daß vielmehr die äußeren Ursachen, auf die wir schließen müssen, um
unsere sogenannten Sinnesempfindungen zu erklären, lediglich durch extensive
oder räumlich-zeitliche Quantitätsbestimmungen und Richtungsbestimmungen,
durch Schwingungsform und Schwingungsgeschwindigkeit irgend welches gleich-
giltigen Mediums, sich unter einander unterscheiden, während die durch solchen
Unterschied bedingten Empfindungsunterschiede in unserm Innern vor allein
qualitative und rücksichtlich der Quantität nur zeitliche und dynamische
oder intensitative Unterschiede ausweisen. Einfach: Unsre Empfindungen sind
etwas, was mit seiner angeblichen Ursache in der Außenwelt nichts gemein hat,
außer etwa Zeit- und Maßverhältnisse. Draußen schwingt eine Saite aus
Schasdarm -- in unserm Innern hören wir einen Ton: ums hat ein schwingender
Schafdarm mit einem Tone gemein? Draußen steigt eine Schwingungsgeschwin¬
digkeit von 400 Billionen in der Secunde auf 700 Billionen -- in unserm Innern
verwandelt sich das Rothfeder in Violettsehen: was haben die Ziffern 400 und 700
mit dem Unterschiede von Roth und Violett gemein? Alles, was die Untersuchung der
sensiblen Nervenleitungen an den Tag zu bringen vermochte, stimmte vortrefflich zu
der gewonnenen Einsicht. Die empfindlichen Nervenendigungen der Sinnesorgane
erschienen allenthalben, vor allem in Auge und Ohr, lediglich geeignet, um Be¬
wegungen fortzupflanzen, ganz besonders qualificirt, die feinsten Bewegungs¬
unterschiede als solche festzuhalten und getrennt weiterzutragen, ihre Gehäuse
wie dazu gemacht, um alle anderen Einflüsse außer diesen sich fortpflanzenden
Bewegungen fernzuhalten. Aber nichts fand sich davon, daß und wie sich die
fortgepflanzten Bewegungen in Farben, Tone u. s. w. verwandelten. Die Farben,
Tone, Düfte, Wärmeunterschiede, Geschmacksempfindungen, Rauhheit- und Glätte-
Empfindungen -- all dies sogenannte Sinnliche, Körperliche -- verwandelte
sich nun plötzlich in ein Reich des Bewußtseins, ein Geistesreich.
Draußen -- war Nacht, Stille, eine Welt geräuschlos im Dunkeln auf- und
abtanzender, hin- und hergestoßener Atome.

So entstand gerade aus der idealistischen Wendung unserer philosophisch
gewordenen Naturwissenschaft die -- Nachtansicht, wie Fechner es nennt.
An ihre Stelle will er seine Tages anficht setzen.

Die Bezeichnung "Nachtansicht", welche wir so aus ihrer nächsten Veranlassung
entstehen sahe", wird aber von Fechner nicht allein auf die naturwissenschaftliche
Annahme einer dunkeln, stillen, todten Atomenwelt außerhalb des Bewußtseins


sie selbst vermeintlich zu Objecten unseres Bewußtseins werden, für immer
den Boden entzog. Sie konnte nachweisen, daß Licht und Farben, die unserem
innern Bewußtseinsauge erscheinen, keineswegs durch Licht und Farben einer
Außenwelt entstehen, sich wandeln, sich steigern, abnehmen, ebenso wenig wie
die Töne innen durch Tone außen, die Wärme innen durch Wärme außen
u. s. w., daß vielmehr die äußeren Ursachen, auf die wir schließen müssen, um
unsere sogenannten Sinnesempfindungen zu erklären, lediglich durch extensive
oder räumlich-zeitliche Quantitätsbestimmungen und Richtungsbestimmungen,
durch Schwingungsform und Schwingungsgeschwindigkeit irgend welches gleich-
giltigen Mediums, sich unter einander unterscheiden, während die durch solchen
Unterschied bedingten Empfindungsunterschiede in unserm Innern vor allein
qualitative und rücksichtlich der Quantität nur zeitliche und dynamische
oder intensitative Unterschiede ausweisen. Einfach: Unsre Empfindungen sind
etwas, was mit seiner angeblichen Ursache in der Außenwelt nichts gemein hat,
außer etwa Zeit- und Maßverhältnisse. Draußen schwingt eine Saite aus
Schasdarm — in unserm Innern hören wir einen Ton: ums hat ein schwingender
Schafdarm mit einem Tone gemein? Draußen steigt eine Schwingungsgeschwin¬
digkeit von 400 Billionen in der Secunde auf 700 Billionen — in unserm Innern
verwandelt sich das Rothfeder in Violettsehen: was haben die Ziffern 400 und 700
mit dem Unterschiede von Roth und Violett gemein? Alles, was die Untersuchung der
sensiblen Nervenleitungen an den Tag zu bringen vermochte, stimmte vortrefflich zu
der gewonnenen Einsicht. Die empfindlichen Nervenendigungen der Sinnesorgane
erschienen allenthalben, vor allem in Auge und Ohr, lediglich geeignet, um Be¬
wegungen fortzupflanzen, ganz besonders qualificirt, die feinsten Bewegungs¬
unterschiede als solche festzuhalten und getrennt weiterzutragen, ihre Gehäuse
wie dazu gemacht, um alle anderen Einflüsse außer diesen sich fortpflanzenden
Bewegungen fernzuhalten. Aber nichts fand sich davon, daß und wie sich die
fortgepflanzten Bewegungen in Farben, Tone u. s. w. verwandelten. Die Farben,
Tone, Düfte, Wärmeunterschiede, Geschmacksempfindungen, Rauhheit- und Glätte-
Empfindungen — all dies sogenannte Sinnliche, Körperliche — verwandelte
sich nun plötzlich in ein Reich des Bewußtseins, ein Geistesreich.
Draußen — war Nacht, Stille, eine Welt geräuschlos im Dunkeln auf- und
abtanzender, hin- und hergestoßener Atome.

So entstand gerade aus der idealistischen Wendung unserer philosophisch
gewordenen Naturwissenschaft die — Nachtansicht, wie Fechner es nennt.
An ihre Stelle will er seine Tages anficht setzen.

Die Bezeichnung „Nachtansicht", welche wir so aus ihrer nächsten Veranlassung
entstehen sahe«, wird aber von Fechner nicht allein auf die naturwissenschaftliche
Annahme einer dunkeln, stillen, todten Atomenwelt außerhalb des Bewußtseins


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[0538] sie selbst vermeintlich zu Objecten unseres Bewußtseins werden, für immer den Boden entzog. Sie konnte nachweisen, daß Licht und Farben, die unserem innern Bewußtseinsauge erscheinen, keineswegs durch Licht und Farben einer Außenwelt entstehen, sich wandeln, sich steigern, abnehmen, ebenso wenig wie die Töne innen durch Tone außen, die Wärme innen durch Wärme außen u. s. w., daß vielmehr die äußeren Ursachen, auf die wir schließen müssen, um unsere sogenannten Sinnesempfindungen zu erklären, lediglich durch extensive oder räumlich-zeitliche Quantitätsbestimmungen und Richtungsbestimmungen, durch Schwingungsform und Schwingungsgeschwindigkeit irgend welches gleich- giltigen Mediums, sich unter einander unterscheiden, während die durch solchen Unterschied bedingten Empfindungsunterschiede in unserm Innern vor allein qualitative und rücksichtlich der Quantität nur zeitliche und dynamische oder intensitative Unterschiede ausweisen. Einfach: Unsre Empfindungen sind etwas, was mit seiner angeblichen Ursache in der Außenwelt nichts gemein hat, außer etwa Zeit- und Maßverhältnisse. Draußen schwingt eine Saite aus Schasdarm — in unserm Innern hören wir einen Ton: ums hat ein schwingender Schafdarm mit einem Tone gemein? Draußen steigt eine Schwingungsgeschwin¬ digkeit von 400 Billionen in der Secunde auf 700 Billionen — in unserm Innern verwandelt sich das Rothfeder in Violettsehen: was haben die Ziffern 400 und 700 mit dem Unterschiede von Roth und Violett gemein? Alles, was die Untersuchung der sensiblen Nervenleitungen an den Tag zu bringen vermochte, stimmte vortrefflich zu der gewonnenen Einsicht. Die empfindlichen Nervenendigungen der Sinnesorgane erschienen allenthalben, vor allem in Auge und Ohr, lediglich geeignet, um Be¬ wegungen fortzupflanzen, ganz besonders qualificirt, die feinsten Bewegungs¬ unterschiede als solche festzuhalten und getrennt weiterzutragen, ihre Gehäuse wie dazu gemacht, um alle anderen Einflüsse außer diesen sich fortpflanzenden Bewegungen fernzuhalten. Aber nichts fand sich davon, daß und wie sich die fortgepflanzten Bewegungen in Farben, Tone u. s. w. verwandelten. Die Farben, Tone, Düfte, Wärmeunterschiede, Geschmacksempfindungen, Rauhheit- und Glätte- Empfindungen — all dies sogenannte Sinnliche, Körperliche — verwandelte sich nun plötzlich in ein Reich des Bewußtseins, ein Geistesreich. Draußen — war Nacht, Stille, eine Welt geräuschlos im Dunkeln auf- und abtanzender, hin- und hergestoßener Atome. So entstand gerade aus der idealistischen Wendung unserer philosophisch gewordenen Naturwissenschaft die — Nachtansicht, wie Fechner es nennt. An ihre Stelle will er seine Tages anficht setzen. Die Bezeichnung „Nachtansicht", welche wir so aus ihrer nächsten Veranlassung entstehen sahe«, wird aber von Fechner nicht allein auf die naturwissenschaftliche Annahme einer dunkeln, stillen, todten Atomenwelt außerhalb des Bewußtseins

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/538>, abgerufen am 22.07.2024.