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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Fechners "Tagesansicht".
v Rudolf Seydel. on

Wer den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie in den letzten Jahr¬
zehnten mit Bewußtsein durchlebt hat, wird nur schwer den Gedanken von sich
fernhalten können, daß wir es in der Hauptsache mit einem Zersetzungsprocesse
zu thun hatten, der in unserer unmittelbaren Gegenwart seinem Endpunkte
nahe zu sein scheint. Auflösung der alten Schulkönigreiche, Zersplitterung des
Reiches in unzählige kleine Provinzen, ja beinahe in lauter freie Reichsstädte,
ohne jeden Schatten einer Oberhoheit, hier und da angestrengte, aber wenig er¬
folgreiche Versuche neuer Territorialbilduug, ganz vereinzelte bonapartistische
Velleitäten kometenartiger genialer Geister, die momentan aufregend, gefahrdro¬
hend und -- schweifbildend wirken, aber keinen bewohnbaren Weltkörper zu
festem Sitze darbieten: das ist ungefähr das sich nach außen zuerst aufdrän¬
gende Gesammtbild der gegenwärtigen deutschen Philosophie. Lachende Erben
rüsten sich zur Besitzergreifung, die freilich unter sich selbst ziemlich uneins sind:
die siegesgewisser Erfahrungswissenschaften mit ihren unfehlbaren Methoden,
die glaubensbegeisterte Theologie aller Schattirungen mit ihren unfehlbaren
Autoritäten, phantastischer, sensationsbedürftiger Aberglaube, absoluter Skepticis¬
mus. Und auch wer Hoffnungen auf ein neues schöpferisches Gedankenleben,
welches ewige Wahrheitsfrucht brächte, aus der Beobachtung der weniger sicht¬
baren, stillfleißigen Arbeit so vieler gewinnen möchte, die in immer neuen An¬
sätzen dem alten Ziele näher zu kommen suchen, würde doch wohl vorwiegend
den Eindruck gewinnen, daß jenen Erben in die Hände gearbeitet werde.

Wir wollen uns jeder Prophezeiung enthalten. Aber sollte es wahr sein,
daß bedeutungsvolle, fruchtbare Strömungen der Geistescultur von einzelnen
großen, genialen Persönlichkeiten ausgehen müssen, so wird niemand den fast
wehmüthigen Eindruck tadeln dürfen, mit welchem wir von der Lectüre des


Grenzboten II. 1380. 68
Fechners „Tagesansicht".
v Rudolf Seydel. on

Wer den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie in den letzten Jahr¬
zehnten mit Bewußtsein durchlebt hat, wird nur schwer den Gedanken von sich
fernhalten können, daß wir es in der Hauptsache mit einem Zersetzungsprocesse
zu thun hatten, der in unserer unmittelbaren Gegenwart seinem Endpunkte
nahe zu sein scheint. Auflösung der alten Schulkönigreiche, Zersplitterung des
Reiches in unzählige kleine Provinzen, ja beinahe in lauter freie Reichsstädte,
ohne jeden Schatten einer Oberhoheit, hier und da angestrengte, aber wenig er¬
folgreiche Versuche neuer Territorialbilduug, ganz vereinzelte bonapartistische
Velleitäten kometenartiger genialer Geister, die momentan aufregend, gefahrdro¬
hend und — schweifbildend wirken, aber keinen bewohnbaren Weltkörper zu
festem Sitze darbieten: das ist ungefähr das sich nach außen zuerst aufdrän¬
gende Gesammtbild der gegenwärtigen deutschen Philosophie. Lachende Erben
rüsten sich zur Besitzergreifung, die freilich unter sich selbst ziemlich uneins sind:
die siegesgewisser Erfahrungswissenschaften mit ihren unfehlbaren Methoden,
die glaubensbegeisterte Theologie aller Schattirungen mit ihren unfehlbaren
Autoritäten, phantastischer, sensationsbedürftiger Aberglaube, absoluter Skepticis¬
mus. Und auch wer Hoffnungen auf ein neues schöpferisches Gedankenleben,
welches ewige Wahrheitsfrucht brächte, aus der Beobachtung der weniger sicht¬
baren, stillfleißigen Arbeit so vieler gewinnen möchte, die in immer neuen An¬
sätzen dem alten Ziele näher zu kommen suchen, würde doch wohl vorwiegend
den Eindruck gewinnen, daß jenen Erben in die Hände gearbeitet werde.

Wir wollen uns jeder Prophezeiung enthalten. Aber sollte es wahr sein,
daß bedeutungsvolle, fruchtbare Strömungen der Geistescultur von einzelnen
großen, genialen Persönlichkeiten ausgehen müssen, so wird niemand den fast
wehmüthigen Eindruck tadeln dürfen, mit welchem wir von der Lectüre des


Grenzboten II. 1380. 68
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[0533] Fechners „Tagesansicht". v Rudolf Seydel. on Wer den Entwicklungsgang der deutschen Philosophie in den letzten Jahr¬ zehnten mit Bewußtsein durchlebt hat, wird nur schwer den Gedanken von sich fernhalten können, daß wir es in der Hauptsache mit einem Zersetzungsprocesse zu thun hatten, der in unserer unmittelbaren Gegenwart seinem Endpunkte nahe zu sein scheint. Auflösung der alten Schulkönigreiche, Zersplitterung des Reiches in unzählige kleine Provinzen, ja beinahe in lauter freie Reichsstädte, ohne jeden Schatten einer Oberhoheit, hier und da angestrengte, aber wenig er¬ folgreiche Versuche neuer Territorialbilduug, ganz vereinzelte bonapartistische Velleitäten kometenartiger genialer Geister, die momentan aufregend, gefahrdro¬ hend und — schweifbildend wirken, aber keinen bewohnbaren Weltkörper zu festem Sitze darbieten: das ist ungefähr das sich nach außen zuerst aufdrän¬ gende Gesammtbild der gegenwärtigen deutschen Philosophie. Lachende Erben rüsten sich zur Besitzergreifung, die freilich unter sich selbst ziemlich uneins sind: die siegesgewisser Erfahrungswissenschaften mit ihren unfehlbaren Methoden, die glaubensbegeisterte Theologie aller Schattirungen mit ihren unfehlbaren Autoritäten, phantastischer, sensationsbedürftiger Aberglaube, absoluter Skepticis¬ mus. Und auch wer Hoffnungen auf ein neues schöpferisches Gedankenleben, welches ewige Wahrheitsfrucht brächte, aus der Beobachtung der weniger sicht¬ baren, stillfleißigen Arbeit so vieler gewinnen möchte, die in immer neuen An¬ sätzen dem alten Ziele näher zu kommen suchen, würde doch wohl vorwiegend den Eindruck gewinnen, daß jenen Erben in die Hände gearbeitet werde. Wir wollen uns jeder Prophezeiung enthalten. Aber sollte es wahr sein, daß bedeutungsvolle, fruchtbare Strömungen der Geistescultur von einzelnen großen, genialen Persönlichkeiten ausgehen müssen, so wird niemand den fast wehmüthigen Eindruck tadeln dürfen, mit welchem wir von der Lectüre des Grenzboten II. 1380. 68

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/533>, abgerufen am 22.07.2024.