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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Rechtsgrundsatz zur Geltung zu bringen, als die Zahl der Parlamentssitze ihrer
Partei zu vergrößern. So verstärkten die Whigs 1832 durch John Rnssells
Reformbill, die eine neue Vertheilung der ländlichen Wahlgemeinden und Herab¬
setzung des Census in den Städten zum Zweck hatte, ihre Wählerschaft erheb¬
lich. Dann fristeten sie ihre Popularität Jahrzehnte hindurch, indem sie stets
eine gewisse Bereitwilligkeit zur Schau trugen, die Berechtigung zum Mitwählen
durch Verminderung des Census zu erweitern. Im Grunde aber war den
Meisten unter ihnen an einer stark fühlbaren Reform in dieser Hinsicht nichts
gelegen. Sie stellten wohl dahin gehende Anträge, aber in heuchlerischer Weise;
denn bei der Abstimmung über dieselben half ein Theil der Partei durch sein
Votum die vorgeschlagene Maßregel zu Falle zu bringen. "Als 1866 über
Russells Bill zur Herabminderung der städtischen Wahlschätzuug voll zehn auf
fünf Pfund Sterling abgestimmt wurde, erkannten feinere Beobachter sehr rasch,
daß nur die Radicalen mit Herz und Stimme, die Whigs aber nur mit der
Stimme die Neuerung vertraten; und in der entscheidenden Sitzung votirte so¬
gar ein Theil der letzteren mit den Tories." Die Bill fiel, und mit ihrem Fall
ging die Regierung auf die voll Lord Derby und Disraeli geleiteten Tories
über. Diese hätten nun, da sie nur schwache Stimmkräfte hinter sich hatte",
bald wieder vom Ruder zurücktreten müssen, und so beschloß Lord Derby, einen
großen Anlauf zu nehmen, seinen Gegnern den Schein reformiren wollender
Politiker, von dem sie jahrelang ihre Popularität hergenommen hatten, abzu¬
streifen und der Tory-Partei alle aufrichtigen Freunde der Wahlreform zuzu¬
führen, in dem er mit einem Schlage ein Wahlgesetz formulirte, das alles ent¬
hielt, was die Gegenpartei, die angeblich Liberalen, den unvertretenen Klassen
der Bevölkerung bisher nur vorgespiegelt hatte. So wurde 1867 dem Parla¬
mente die Isx DiLiAöli vorgelegt. Dieselbe kannte ursprünglich nur ein Haus¬
halter-Wahlrecht (HoussdolÄ LlM-Äg-s) mit verschiedenen Hindernissen. Bald
aber fiel eine Beschränkung nach der anderen. Zunächst wurde die Bestimmung
beseitigt, nach welcher Hochbesteuerte doppelt stimmten, dann verwandelte man
die Bedingung zweijähriger Ansässigkeit am Wahlorte, indem fortan nur ein¬
jährige llöthig sein sollte, darauf wurde der Unterschied zwischen Miether und
Aftermiether, so fern er den letzteren nicht mitwählen ließ, abgeschafft, und zu¬
letzt überboten sich Whigs und Tories im Befürworter eines hansväterlichen
Wahlrechts ohne alle Verkümmerung. So haben die Tories, die 1832 die
Mündigerklarung der englischen Katholiken durchführten, 1867 von neuem ge¬
zeigt, daß nur sie große Reformen in der Gesetzgebung durchzubringen im
Stande sind.

Man hatte, als 1868 das neue Wahlgesetz zum ersten Male zur Anwen¬
dung kam, viel von ihm gehofft und andererseits viel gefürchtet. Aber scheinbar


Rechtsgrundsatz zur Geltung zu bringen, als die Zahl der Parlamentssitze ihrer
Partei zu vergrößern. So verstärkten die Whigs 1832 durch John Rnssells
Reformbill, die eine neue Vertheilung der ländlichen Wahlgemeinden und Herab¬
setzung des Census in den Städten zum Zweck hatte, ihre Wählerschaft erheb¬
lich. Dann fristeten sie ihre Popularität Jahrzehnte hindurch, indem sie stets
eine gewisse Bereitwilligkeit zur Schau trugen, die Berechtigung zum Mitwählen
durch Verminderung des Census zu erweitern. Im Grunde aber war den
Meisten unter ihnen an einer stark fühlbaren Reform in dieser Hinsicht nichts
gelegen. Sie stellten wohl dahin gehende Anträge, aber in heuchlerischer Weise;
denn bei der Abstimmung über dieselben half ein Theil der Partei durch sein
Votum die vorgeschlagene Maßregel zu Falle zu bringen. „Als 1866 über
Russells Bill zur Herabminderung der städtischen Wahlschätzuug voll zehn auf
fünf Pfund Sterling abgestimmt wurde, erkannten feinere Beobachter sehr rasch,
daß nur die Radicalen mit Herz und Stimme, die Whigs aber nur mit der
Stimme die Neuerung vertraten; und in der entscheidenden Sitzung votirte so¬
gar ein Theil der letzteren mit den Tories." Die Bill fiel, und mit ihrem Fall
ging die Regierung auf die voll Lord Derby und Disraeli geleiteten Tories
über. Diese hätten nun, da sie nur schwache Stimmkräfte hinter sich hatte»,
bald wieder vom Ruder zurücktreten müssen, und so beschloß Lord Derby, einen
großen Anlauf zu nehmen, seinen Gegnern den Schein reformiren wollender
Politiker, von dem sie jahrelang ihre Popularität hergenommen hatten, abzu¬
streifen und der Tory-Partei alle aufrichtigen Freunde der Wahlreform zuzu¬
führen, in dem er mit einem Schlage ein Wahlgesetz formulirte, das alles ent¬
hielt, was die Gegenpartei, die angeblich Liberalen, den unvertretenen Klassen
der Bevölkerung bisher nur vorgespiegelt hatte. So wurde 1867 dem Parla¬
mente die Isx DiLiAöli vorgelegt. Dieselbe kannte ursprünglich nur ein Haus¬
halter-Wahlrecht (HoussdolÄ LlM-Äg-s) mit verschiedenen Hindernissen. Bald
aber fiel eine Beschränkung nach der anderen. Zunächst wurde die Bestimmung
beseitigt, nach welcher Hochbesteuerte doppelt stimmten, dann verwandelte man
die Bedingung zweijähriger Ansässigkeit am Wahlorte, indem fortan nur ein¬
jährige llöthig sein sollte, darauf wurde der Unterschied zwischen Miether und
Aftermiether, so fern er den letzteren nicht mitwählen ließ, abgeschafft, und zu¬
letzt überboten sich Whigs und Tories im Befürworter eines hansväterlichen
Wahlrechts ohne alle Verkümmerung. So haben die Tories, die 1832 die
Mündigerklarung der englischen Katholiken durchführten, 1867 von neuem ge¬
zeigt, daß nur sie große Reformen in der Gesetzgebung durchzubringen im
Stande sind.

Man hatte, als 1868 das neue Wahlgesetz zum ersten Male zur Anwen¬
dung kam, viel von ihm gehofft und andererseits viel gefürchtet. Aber scheinbar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/408>, abgerufen am 22.07.2024.