wärtig allem große Heere aufgestellt und erhalten werden können, dem Volke, bei dem sie eingeführt ist, einen Charakter, der gleichfalls nicht recht zur Selbst¬ regierung stimmt; denn der in der militärischen Schule erzogene Bürger wird, auch wenn diese ihn entlassen hat, immer mehr oder minder nach den Regeln denken und handeln, die ihm dort eingeprägt worden sind, und die selbstver¬ ständlich mehr auf Unterordnung unter einen höheren Willen als auf selbstän¬ diges Auftreten hinzielen. Großbritannien als Inselstaat hat jene Nothwendig¬ keit und ihre Consequenzen nie kennen gelernt.
Die brittische Verfassung kennt drei Gewalten: Krone, Ober- und Unter¬ haus. Eine eigentliche Constitution giebt es nicht. An ihrer Stelle gelten eine Reihe von Parlamentsbeschlttssen, welche von der Krone gut geheißen worden sind. Das Einspruchsrecht der letzteren gegen solche Beschlüsse ist indeß nur nominell; denn fast seit zwei Jahrhunderten haben die englischen Souveräne thatsächlich auf Ausübung dieses Rechts verzichtet und jedes von beiden Häusern der Landesvertretung beschlossene Gesetz genehmigt. Die englische Krone hat seit dem Tode des Gemahls der jetzigen Königin erheblich an Ansehen einge¬ büßt. Schon vorher hatte Robert Peel sie genöthigt, bei einem Wechsel des Ministeriums auch die obersten Hofämter aus der ans Ruder gelangten Partei zu besetzen, also die Farbe der letzteren zu tragen und sich in deren Atmosphäre zu bewegen. 1868 beging der damals abtretende Minister Disraeli die arge Unehrerbietigkeit, in den "Times" eine Denkschrift über seine Amtsniederlegung zu veröffentlichen, ehe die Königin diese genehmigt hatte. Wo die Engländer unter sich zu sein glauben, äußern sie sich nicht selten in wenig sympathischer Weise über ihre Monarchin und noch weniger günstig über deren voraussicht¬ lichen Nachfolger. Im Frühjahr 1868 hatte ein Mitglied des Unterhauses die Stirn, einen Antrag zu stellen, der darauf hinauslief, die Königin zur Abdan¬ kung zu veranlassen.
Das Oberhaus, aus erblichen Repräsentanten der englischen Aristokratie, lebenslänglich gewühlten Vertretern des irischen, nur für die Dauer des Parla¬ ments ernannten Vertretern des schottischen Adels und einigen englischen Prä¬ laten zusammengesetzt, besitzt gegenwärtig und schon seit vielen Jahren nur noch geringe politische Bedeutung, und sein Veto hat thatsächlich nur aufschiebende Wirkung. Das Unterhaus ist es, welches Großbritannien regiert und welches seinerseits wieder von denen regiert wird, welche über die Mehrheit der Stim¬ men in der Versammlung verfügen; denn aus dieser Mehrheit geht das Mini¬ sterium hervor, und dieses tritt sofort zurück, wenn es in einer politischen oder finanziellen Frage in der Minderheit bleibt. Abwechselnd kommen so bald die Tories, die gewöhnlich als Konservative, bald die Whigs, die als Liberale auf¬ gefaßt werden, ans Unter. Der liberale oder conservative Charakter dieser
wärtig allem große Heere aufgestellt und erhalten werden können, dem Volke, bei dem sie eingeführt ist, einen Charakter, der gleichfalls nicht recht zur Selbst¬ regierung stimmt; denn der in der militärischen Schule erzogene Bürger wird, auch wenn diese ihn entlassen hat, immer mehr oder minder nach den Regeln denken und handeln, die ihm dort eingeprägt worden sind, und die selbstver¬ ständlich mehr auf Unterordnung unter einen höheren Willen als auf selbstän¬ diges Auftreten hinzielen. Großbritannien als Inselstaat hat jene Nothwendig¬ keit und ihre Consequenzen nie kennen gelernt.
Die brittische Verfassung kennt drei Gewalten: Krone, Ober- und Unter¬ haus. Eine eigentliche Constitution giebt es nicht. An ihrer Stelle gelten eine Reihe von Parlamentsbeschlttssen, welche von der Krone gut geheißen worden sind. Das Einspruchsrecht der letzteren gegen solche Beschlüsse ist indeß nur nominell; denn fast seit zwei Jahrhunderten haben die englischen Souveräne thatsächlich auf Ausübung dieses Rechts verzichtet und jedes von beiden Häusern der Landesvertretung beschlossene Gesetz genehmigt. Die englische Krone hat seit dem Tode des Gemahls der jetzigen Königin erheblich an Ansehen einge¬ büßt. Schon vorher hatte Robert Peel sie genöthigt, bei einem Wechsel des Ministeriums auch die obersten Hofämter aus der ans Ruder gelangten Partei zu besetzen, also die Farbe der letzteren zu tragen und sich in deren Atmosphäre zu bewegen. 1868 beging der damals abtretende Minister Disraeli die arge Unehrerbietigkeit, in den „Times" eine Denkschrift über seine Amtsniederlegung zu veröffentlichen, ehe die Königin diese genehmigt hatte. Wo die Engländer unter sich zu sein glauben, äußern sie sich nicht selten in wenig sympathischer Weise über ihre Monarchin und noch weniger günstig über deren voraussicht¬ lichen Nachfolger. Im Frühjahr 1868 hatte ein Mitglied des Unterhauses die Stirn, einen Antrag zu stellen, der darauf hinauslief, die Königin zur Abdan¬ kung zu veranlassen.
Das Oberhaus, aus erblichen Repräsentanten der englischen Aristokratie, lebenslänglich gewühlten Vertretern des irischen, nur für die Dauer des Parla¬ ments ernannten Vertretern des schottischen Adels und einigen englischen Prä¬ laten zusammengesetzt, besitzt gegenwärtig und schon seit vielen Jahren nur noch geringe politische Bedeutung, und sein Veto hat thatsächlich nur aufschiebende Wirkung. Das Unterhaus ist es, welches Großbritannien regiert und welches seinerseits wieder von denen regiert wird, welche über die Mehrheit der Stim¬ men in der Versammlung verfügen; denn aus dieser Mehrheit geht das Mini¬ sterium hervor, und dieses tritt sofort zurück, wenn es in einer politischen oder finanziellen Frage in der Minderheit bleibt. Abwechselnd kommen so bald die Tories, die gewöhnlich als Konservative, bald die Whigs, die als Liberale auf¬ gefaßt werden, ans Unter. Der liberale oder conservative Charakter dieser
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wärtig allem große Heere aufgestellt und erhalten werden können, dem Volke,
bei dem sie eingeführt ist, einen Charakter, der gleichfalls nicht recht zur Selbst¬
regierung stimmt; denn der in der militärischen Schule erzogene Bürger wird,
auch wenn diese ihn entlassen hat, immer mehr oder minder nach den Regeln
denken und handeln, die ihm dort eingeprägt worden sind, und die selbstver¬
ständlich mehr auf Unterordnung unter einen höheren Willen als auf selbstän¬
diges Auftreten hinzielen. Großbritannien als Inselstaat hat jene Nothwendig¬
keit und ihre Consequenzen nie kennen gelernt.
Die brittische Verfassung kennt drei Gewalten: Krone, Ober- und Unter¬
haus. Eine eigentliche Constitution giebt es nicht. An ihrer Stelle gelten
eine Reihe von Parlamentsbeschlttssen, welche von der Krone gut geheißen worden
sind. Das Einspruchsrecht der letzteren gegen solche Beschlüsse ist indeß nur
nominell; denn fast seit zwei Jahrhunderten haben die englischen Souveräne
thatsächlich auf Ausübung dieses Rechts verzichtet und jedes von beiden Häusern
der Landesvertretung beschlossene Gesetz genehmigt. Die englische Krone hat
seit dem Tode des Gemahls der jetzigen Königin erheblich an Ansehen einge¬
büßt. Schon vorher hatte Robert Peel sie genöthigt, bei einem Wechsel des
Ministeriums auch die obersten Hofämter aus der ans Ruder gelangten Partei
zu besetzen, also die Farbe der letzteren zu tragen und sich in deren Atmosphäre
zu bewegen. 1868 beging der damals abtretende Minister Disraeli die arge
Unehrerbietigkeit, in den „Times" eine Denkschrift über seine Amtsniederlegung
zu veröffentlichen, ehe die Königin diese genehmigt hatte. Wo die Engländer
unter sich zu sein glauben, äußern sie sich nicht selten in wenig sympathischer
Weise über ihre Monarchin und noch weniger günstig über deren voraussicht¬
lichen Nachfolger. Im Frühjahr 1868 hatte ein Mitglied des Unterhauses die
Stirn, einen Antrag zu stellen, der darauf hinauslief, die Königin zur Abdan¬
kung zu veranlassen.
Das Oberhaus, aus erblichen Repräsentanten der englischen Aristokratie,
lebenslänglich gewühlten Vertretern des irischen, nur für die Dauer des Parla¬
ments ernannten Vertretern des schottischen Adels und einigen englischen Prä¬
laten zusammengesetzt, besitzt gegenwärtig und schon seit vielen Jahren nur noch
geringe politische Bedeutung, und sein Veto hat thatsächlich nur aufschiebende
Wirkung. Das Unterhaus ist es, welches Großbritannien regiert und welches
seinerseits wieder von denen regiert wird, welche über die Mehrheit der Stim¬
men in der Versammlung verfügen; denn aus dieser Mehrheit geht das Mini¬
sterium hervor, und dieses tritt sofort zurück, wenn es in einer politischen oder
finanziellen Frage in der Minderheit bleibt. Abwechselnd kommen so bald die
Tories, die gewöhnlich als Konservative, bald die Whigs, die als Liberale auf¬
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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/406>, abgerufen am 23.01.2025.
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