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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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germanischen Programm, die Alles für sich in Anspruch nahm, die Europa
Karl den Großen, England Shakespeare und Frankreich die gothische Kunst stahl.
Die ganze Einheitsbewegung war im letzten Grunde doch nur in Preußens
Interesse und preußisches Machwerk. Preußen sandte seine Gelehrten nach
Leipzig, Heidelberg und Tübingen, ließ durch sie Proselyten machen, und es
gelang. Nun Bismarck seinem Herrn die Kaiserwürde und den Oberbefehl über
das deutsche Heer verschafft hat, ist ihm das Uebrige gleichgiltig. Er kümmert
sich nur noch um die auswärtige Politik, die sich dahin zusammenfaßt, daß er
den Haß gegen Frankreich nährt und selbst vor Kindereien (xuörilltss) und
politischen Fehlern nicht zurückschreckt, um diese den preußischen Plänen so nütz¬
liche deutsche Leidenschaft zu befriedigen.

Kühn in seinen Conceptionen, ist Deutschland vollständig unfähig, sie prak¬
tisch zu verwerthen. Das beweist Luthers Reformation, die, während sie Eng¬
land und Amerika den größten Nutzen gebracht hat, Deutschland nur schadete.
Dieselbe Unfähigkeit zeigt sich betreffs der Reichsidee und Elsaß-Lothringens.
Der Grund derselben liegt sehr tief. Deutschland hat nie ein staatliches Leben
geführt, sondern bestand stets nur aus einem confusen Nebeneinander von Kirch-
thurmsinteressen. Der Individualismus ist sein eigentlichstes Wesen. Diese
abgeschlossene Existenz war unfähig, eine Mittelclasse zu schaffen, die durch eigene
Anstrengung zu Wohlstand und Unabhängigkeit gelangte. "Der Deutsche erstickt
oder stirbt Hungers daheim oder er wandert aus. Die Heimat zu verlassen,
wird diesen Völkerschaften nicht schwer, die mit den fruchtbaren (pi-oliüczuos)
Tugenden einer jungen Rasse die Leichtigkeit des Ortswechsels bewahrt haben,
welche Manche bewundern und welche doch nur eine letzte Spur des Nomaden¬
lebens ist." Die öffentliche Meinung ist null oder mindestens unthätig (Worts).
Deutschland ist noch ganz von feudalen Geiste erfüllt. "Erkennt man nicht in
der Gewohnheit der Spionage und der Angeberei, die als die Erfüllung einer
Bürgerpflicht angesehen werden, ein überliefertes Erbe der Sitten und der Zeit,
wo der Hörige sich seinem Edelmann (Kur^ravs) mit Leib und Seele hingab?
..... Noch immer beherrscht der Militär - und Grundadel nebst der Masse
von Theoretikern, mit denen die Universitäten das Land überschwemmen, die
Classe der Producenten (xrocluetours)." Diese Gelehrten aber verstehen vom
wirklichen Leben nichts. Statt ein neues Deutschland zu schaffen, haben sie das
alte wieder hergestellt. Alles wieder altdeutsch machen (rstÄrs ü. l'-ülomanclö),
ist der Grundsatz der Treitschkeschen Schule. Hierin liegt die Erklärung des
Mißerfolgs in Elsaß-Lothringen. In ihrer anmaßenden Idee von der Ueber-
legenheit des deutschen Stammes haben sie vergessen, daß ihre Bildung im
Grunde romanisch, ihre gelehrte Sprache lateinisch, ihre Handelssprache italie¬
nisch, ihre Militärsprache und vor Allem Isnr lan^us ori xlrckSr Isur MKvn


germanischen Programm, die Alles für sich in Anspruch nahm, die Europa
Karl den Großen, England Shakespeare und Frankreich die gothische Kunst stahl.
Die ganze Einheitsbewegung war im letzten Grunde doch nur in Preußens
Interesse und preußisches Machwerk. Preußen sandte seine Gelehrten nach
Leipzig, Heidelberg und Tübingen, ließ durch sie Proselyten machen, und es
gelang. Nun Bismarck seinem Herrn die Kaiserwürde und den Oberbefehl über
das deutsche Heer verschafft hat, ist ihm das Uebrige gleichgiltig. Er kümmert
sich nur noch um die auswärtige Politik, die sich dahin zusammenfaßt, daß er
den Haß gegen Frankreich nährt und selbst vor Kindereien (xuörilltss) und
politischen Fehlern nicht zurückschreckt, um diese den preußischen Plänen so nütz¬
liche deutsche Leidenschaft zu befriedigen.

Kühn in seinen Conceptionen, ist Deutschland vollständig unfähig, sie prak¬
tisch zu verwerthen. Das beweist Luthers Reformation, die, während sie Eng¬
land und Amerika den größten Nutzen gebracht hat, Deutschland nur schadete.
Dieselbe Unfähigkeit zeigt sich betreffs der Reichsidee und Elsaß-Lothringens.
Der Grund derselben liegt sehr tief. Deutschland hat nie ein staatliches Leben
geführt, sondern bestand stets nur aus einem confusen Nebeneinander von Kirch-
thurmsinteressen. Der Individualismus ist sein eigentlichstes Wesen. Diese
abgeschlossene Existenz war unfähig, eine Mittelclasse zu schaffen, die durch eigene
Anstrengung zu Wohlstand und Unabhängigkeit gelangte. „Der Deutsche erstickt
oder stirbt Hungers daheim oder er wandert aus. Die Heimat zu verlassen,
wird diesen Völkerschaften nicht schwer, die mit den fruchtbaren (pi-oliüczuos)
Tugenden einer jungen Rasse die Leichtigkeit des Ortswechsels bewahrt haben,
welche Manche bewundern und welche doch nur eine letzte Spur des Nomaden¬
lebens ist." Die öffentliche Meinung ist null oder mindestens unthätig (Worts).
Deutschland ist noch ganz von feudalen Geiste erfüllt. „Erkennt man nicht in
der Gewohnheit der Spionage und der Angeberei, die als die Erfüllung einer
Bürgerpflicht angesehen werden, ein überliefertes Erbe der Sitten und der Zeit,
wo der Hörige sich seinem Edelmann (Kur^ravs) mit Leib und Seele hingab?
..... Noch immer beherrscht der Militär - und Grundadel nebst der Masse
von Theoretikern, mit denen die Universitäten das Land überschwemmen, die
Classe der Producenten (xrocluetours)." Diese Gelehrten aber verstehen vom
wirklichen Leben nichts. Statt ein neues Deutschland zu schaffen, haben sie das
alte wieder hergestellt. Alles wieder altdeutsch machen (rstÄrs ü. l'-ülomanclö),
ist der Grundsatz der Treitschkeschen Schule. Hierin liegt die Erklärung des
Mißerfolgs in Elsaß-Lothringen. In ihrer anmaßenden Idee von der Ueber-
legenheit des deutschen Stammes haben sie vergessen, daß ihre Bildung im
Grunde romanisch, ihre gelehrte Sprache lateinisch, ihre Handelssprache italie¬
nisch, ihre Militärsprache und vor Allem Isnr lan^us ori xlrckSr Isur MKvn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/368>, abgerufen am 22.07.2024.