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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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beigehen erwähnt, so (II, 77) die "schweren Mißbräuche" und "mancherlei Aerger¬
nisse" beim Ablaß, natürlich ohne daß darauf irgendwie näher eingegangen würde,
so (II, 65) die Verweltlichung des päpstlichen Hofes, so in etwas längerer Aus¬
führung (I, 593 fg.) das üppige Weltleben der deutschen Prälaten. Dinge wie
die wuchtigen Beschwerden der deutschen Stände über den römischen Hof, die
auf den Reichstagen von 1518 und 1523 vorgebracht wurden, werden entweder
ganz übergegangen (so I, 561) oder nur angedeutet (so II, 260). Niemand kann
aus solchen vereinzelten, unvollständigen Mittheilungen eine Vorstellung von
dem wirklichen Zustande gewinnen, von der Frivolität der römischen Curie und
ihren maßlosen Erpressungen, von dem überall hemmenden Einflüsse der geist¬
lichen Gerichte und der colossalen Ziffer geistlicher Müßiggänger, der "Drohnen im
Bienenstock", von der entsittlichenden Veräußerlichung alles religiösen Lebens durch
eben die Werkheiligkeit, welche der herrschende Pelagianismus nothwendig ent¬
wickelte. Nur die lichten Seiten derselben, die Entstehung und Unterhaltung zahl¬
loser frommer Stiftungen und die Beförderung der Kunst hebt Janssen hervor.
Daran knüpft sich der weitere Versuch, zu beweisen, daß vieles, was man als
specifisch protestantisch zu betrachten sich gewöhnt habe, längst vor Luther vor¬
handen gewesen, so das deutsche Kirchenlied (I, 219 fg.), die deutsche Bibel
(I, 43 fg.), die deutsche Predigt (I, 26 fg.), der deutsche Katechismus (1, 33 fg.).
Dabei wird nur freilich verschwiegen, daß die oberen Kirchengewalten dieser
Popularisirung keineswegs günstig waren, daß jene Bibeln alle nur auf die
vielfach verderbte Vulgata zurückgingen und keine es zu allgemeiner Anerkennung
brachte, daß auch die Predigten zum großen Theil nichts weiter als Abhand-
lungen über Glaubenslehren waren (was Jenssen allerdings bewundert) und
demgemäß über die Fassungskraft der Menge, die man sich doch wahrhaftig nicht
größer vorstellen darf als sie heute ist, meist weit hinausgingen. Ganz besonders
liebt es der Verfasser, Vorschriften, die etwa ein Bischof oder eine Synode er¬
läßt, ohne weiteres als Belege für die wirklich vorhandenen Zustände aufzufassen,
während sie oft geradezu das Gegentheil sind.

Natürlich erscheint nun auch das kirchliche Unterrichtswesen jener Zeit im
hellsten Lichte. Einzelne Partien des Janssenschen Werkes sind auch hier un¬
leugbar vortrefflich, so namentlich die über die Universitäten (I, 66 fg.). Sehr
wenig dagegen befriedigt die Darstellung des Schulwesens. Auch hier vermißt
man eine eingehendere Schilderung des Zustandes in den Schulen, ihres dürf¬
tigen Unterrichts, ihres unsicheren und oft herzlich untauglichen Lehrpersonals;
auf die Ausbildung der Stadtschulen, die vor allem aus den ungenügenden
Leistungen der geistlichen Anstalten sich erklärt, wird gar nicht eingegangen, und
die Neugestaltung des Unterrichtswesens, wie sie der deutsche Humanismus an-


beigehen erwähnt, so (II, 77) die „schweren Mißbräuche" und „mancherlei Aerger¬
nisse" beim Ablaß, natürlich ohne daß darauf irgendwie näher eingegangen würde,
so (II, 65) die Verweltlichung des päpstlichen Hofes, so in etwas längerer Aus¬
führung (I, 593 fg.) das üppige Weltleben der deutschen Prälaten. Dinge wie
die wuchtigen Beschwerden der deutschen Stände über den römischen Hof, die
auf den Reichstagen von 1518 und 1523 vorgebracht wurden, werden entweder
ganz übergegangen (so I, 561) oder nur angedeutet (so II, 260). Niemand kann
aus solchen vereinzelten, unvollständigen Mittheilungen eine Vorstellung von
dem wirklichen Zustande gewinnen, von der Frivolität der römischen Curie und
ihren maßlosen Erpressungen, von dem überall hemmenden Einflüsse der geist¬
lichen Gerichte und der colossalen Ziffer geistlicher Müßiggänger, der „Drohnen im
Bienenstock", von der entsittlichenden Veräußerlichung alles religiösen Lebens durch
eben die Werkheiligkeit, welche der herrschende Pelagianismus nothwendig ent¬
wickelte. Nur die lichten Seiten derselben, die Entstehung und Unterhaltung zahl¬
loser frommer Stiftungen und die Beförderung der Kunst hebt Janssen hervor.
Daran knüpft sich der weitere Versuch, zu beweisen, daß vieles, was man als
specifisch protestantisch zu betrachten sich gewöhnt habe, längst vor Luther vor¬
handen gewesen, so das deutsche Kirchenlied (I, 219 fg.), die deutsche Bibel
(I, 43 fg.), die deutsche Predigt (I, 26 fg.), der deutsche Katechismus (1, 33 fg.).
Dabei wird nur freilich verschwiegen, daß die oberen Kirchengewalten dieser
Popularisirung keineswegs günstig waren, daß jene Bibeln alle nur auf die
vielfach verderbte Vulgata zurückgingen und keine es zu allgemeiner Anerkennung
brachte, daß auch die Predigten zum großen Theil nichts weiter als Abhand-
lungen über Glaubenslehren waren (was Jenssen allerdings bewundert) und
demgemäß über die Fassungskraft der Menge, die man sich doch wahrhaftig nicht
größer vorstellen darf als sie heute ist, meist weit hinausgingen. Ganz besonders
liebt es der Verfasser, Vorschriften, die etwa ein Bischof oder eine Synode er¬
läßt, ohne weiteres als Belege für die wirklich vorhandenen Zustände aufzufassen,
während sie oft geradezu das Gegentheil sind.

Natürlich erscheint nun auch das kirchliche Unterrichtswesen jener Zeit im
hellsten Lichte. Einzelne Partien des Janssenschen Werkes sind auch hier un¬
leugbar vortrefflich, so namentlich die über die Universitäten (I, 66 fg.). Sehr
wenig dagegen befriedigt die Darstellung des Schulwesens. Auch hier vermißt
man eine eingehendere Schilderung des Zustandes in den Schulen, ihres dürf¬
tigen Unterrichts, ihres unsicheren und oft herzlich untauglichen Lehrpersonals;
auf die Ausbildung der Stadtschulen, die vor allem aus den ungenügenden
Leistungen der geistlichen Anstalten sich erklärt, wird gar nicht eingegangen, und
die Neugestaltung des Unterrichtswesens, wie sie der deutsche Humanismus an-


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[0343] beigehen erwähnt, so (II, 77) die „schweren Mißbräuche" und „mancherlei Aerger¬ nisse" beim Ablaß, natürlich ohne daß darauf irgendwie näher eingegangen würde, so (II, 65) die Verweltlichung des päpstlichen Hofes, so in etwas längerer Aus¬ führung (I, 593 fg.) das üppige Weltleben der deutschen Prälaten. Dinge wie die wuchtigen Beschwerden der deutschen Stände über den römischen Hof, die auf den Reichstagen von 1518 und 1523 vorgebracht wurden, werden entweder ganz übergegangen (so I, 561) oder nur angedeutet (so II, 260). Niemand kann aus solchen vereinzelten, unvollständigen Mittheilungen eine Vorstellung von dem wirklichen Zustande gewinnen, von der Frivolität der römischen Curie und ihren maßlosen Erpressungen, von dem überall hemmenden Einflüsse der geist¬ lichen Gerichte und der colossalen Ziffer geistlicher Müßiggänger, der „Drohnen im Bienenstock", von der entsittlichenden Veräußerlichung alles religiösen Lebens durch eben die Werkheiligkeit, welche der herrschende Pelagianismus nothwendig ent¬ wickelte. Nur die lichten Seiten derselben, die Entstehung und Unterhaltung zahl¬ loser frommer Stiftungen und die Beförderung der Kunst hebt Janssen hervor. Daran knüpft sich der weitere Versuch, zu beweisen, daß vieles, was man als specifisch protestantisch zu betrachten sich gewöhnt habe, längst vor Luther vor¬ handen gewesen, so das deutsche Kirchenlied (I, 219 fg.), die deutsche Bibel (I, 43 fg.), die deutsche Predigt (I, 26 fg.), der deutsche Katechismus (1, 33 fg.). Dabei wird nur freilich verschwiegen, daß die oberen Kirchengewalten dieser Popularisirung keineswegs günstig waren, daß jene Bibeln alle nur auf die vielfach verderbte Vulgata zurückgingen und keine es zu allgemeiner Anerkennung brachte, daß auch die Predigten zum großen Theil nichts weiter als Abhand- lungen über Glaubenslehren waren (was Jenssen allerdings bewundert) und demgemäß über die Fassungskraft der Menge, die man sich doch wahrhaftig nicht größer vorstellen darf als sie heute ist, meist weit hinausgingen. Ganz besonders liebt es der Verfasser, Vorschriften, die etwa ein Bischof oder eine Synode er¬ läßt, ohne weiteres als Belege für die wirklich vorhandenen Zustände aufzufassen, während sie oft geradezu das Gegentheil sind. Natürlich erscheint nun auch das kirchliche Unterrichtswesen jener Zeit im hellsten Lichte. Einzelne Partien des Janssenschen Werkes sind auch hier un¬ leugbar vortrefflich, so namentlich die über die Universitäten (I, 66 fg.). Sehr wenig dagegen befriedigt die Darstellung des Schulwesens. Auch hier vermißt man eine eingehendere Schilderung des Zustandes in den Schulen, ihres dürf¬ tigen Unterrichts, ihres unsicheren und oft herzlich untauglichen Lehrpersonals; auf die Ausbildung der Stadtschulen, die vor allem aus den ungenügenden Leistungen der geistlichen Anstalten sich erklärt, wird gar nicht eingegangen, und die Neugestaltung des Unterrichtswesens, wie sie der deutsche Humanismus an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/343>, abgerufen am 22.07.2024.