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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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England Bettelprvfessoren und Schriften geben, welche die Kunst des Bettelns
lehren, und Karten, auf denen leichtgläubige und freigebige Armenfreunde ver¬
zeichnet sind. In einem sprachlichen Werke, DiotioQrmr^ ok Lila^ (London,
Hollen), finden sich z. B. für Leute, die unter dem Deckmantel des Hausirhan¬
dels den Bettel und die Gelegenheitsdieberei betreiben, bestimmte Signale an¬
gegeben, welche in deutscher Uebersetzung ungefähr so lauten würden: "zu arm,
nichts zu holen -- überlaufen, verdorben, schon zu gewitzigt -- religiös, da
mußt du fromm thun -- gefährlich, konntest leicht eingesponnen werden -- nimm
dich vor dem Hunde in Acht -- hier darfst du nicht viel papeln -- gut für
Speisung" u. s. w. An Thüren, Steinen, Bäumen werden derlei Zeichen
gleichfalls angebracht, die aber auch manchmal irreführen und von den guten
Quellen ableiten sollen. Das Lächeln über solche Dinge erstirbt auf den Lippen,
wenn man an die Summe von Elend und Verworfenheit denkt, die in diesem
trüben Strome einhertreibt.

Von Vereinen wird oft darauf hingewiesen, daß die Hausbettelei auf die
Wohlhabende" schädlich wirkt, indem sie die Arbeit und Ruhe des Hauses stört,
durch Erspähung der Gelegenheit zum Diebstahl den Besitz, durch Umhertragen
ansteckender Krankheiten die Gesundheit gefährdet, daß sie das Gefühl lebendiger
Theilnahme, auf das der würdige Arme ein Recht hat, abstumpft und, je ernster
wir es mit der Hilfe meinen, in um so schwerere Gewissensbedenken uns ver¬
strickt. Sie wirkt aber auch auf die Bettelnden verderblich, denn sie macht die
Führung eines geordneten Hausstandes, die auch unter dem Drucke der Armuth
noch möglich ist, unmöglich , befördert bei Erwachsenen die Entwicklung der
Neigung zu Lüge, Trägheit, Trunk und Verbrechen, verhindert bei Kindern
geordnete Pflege des geistigen und sittlichen Lebens und füllt die Reihen der
Unbrauchbaren und Prostituirten wie die Räume der Gefängnisse und Zucht¬
häuser. Dennoch fährt die Mehrzahl der Familien fort, unbekannte Leute zu
beschenken.

Zum Schlüsse nur noch ein paar statistische Einzelheiten. In Berlin wurden
1879 bloß im Asylverein über 120000, in städtischen Asylen über 110000
Obdachlose beherbergt, polizeilich in Gewahrsam gebracht wegen Obdachlosigkeit
8350, wegen Bettelns 13000. In dem kleinen Offenbach übernachteten allein
im Januar 1800 Obdachlose. Die von Gemeinden in Deutschland an "arme
Reisende" gereichten Unterstützungen werden auf ^ Milliarde das Jahr geschätzt,
und eben so hoch die auf Verpflegung der Sträflinge in den Arbeitshäusern
und Gefängnissen verwendete Summe.

Wenn unser Mitleid und unsere Mildthätigkeit die falschen Bahnen nicht
verläßt und richtige einschlägt, vereiteln wir alle Bemühungen von Behörden
und Vereinen, die Massenverarmung zu bekämpfen.




England Bettelprvfessoren und Schriften geben, welche die Kunst des Bettelns
lehren, und Karten, auf denen leichtgläubige und freigebige Armenfreunde ver¬
zeichnet sind. In einem sprachlichen Werke, DiotioQrmr^ ok Lila^ (London,
Hollen), finden sich z. B. für Leute, die unter dem Deckmantel des Hausirhan¬
dels den Bettel und die Gelegenheitsdieberei betreiben, bestimmte Signale an¬
gegeben, welche in deutscher Uebersetzung ungefähr so lauten würden: „zu arm,
nichts zu holen — überlaufen, verdorben, schon zu gewitzigt — religiös, da
mußt du fromm thun — gefährlich, konntest leicht eingesponnen werden — nimm
dich vor dem Hunde in Acht — hier darfst du nicht viel papeln — gut für
Speisung" u. s. w. An Thüren, Steinen, Bäumen werden derlei Zeichen
gleichfalls angebracht, die aber auch manchmal irreführen und von den guten
Quellen ableiten sollen. Das Lächeln über solche Dinge erstirbt auf den Lippen,
wenn man an die Summe von Elend und Verworfenheit denkt, die in diesem
trüben Strome einhertreibt.

Von Vereinen wird oft darauf hingewiesen, daß die Hausbettelei auf die
Wohlhabende» schädlich wirkt, indem sie die Arbeit und Ruhe des Hauses stört,
durch Erspähung der Gelegenheit zum Diebstahl den Besitz, durch Umhertragen
ansteckender Krankheiten die Gesundheit gefährdet, daß sie das Gefühl lebendiger
Theilnahme, auf das der würdige Arme ein Recht hat, abstumpft und, je ernster
wir es mit der Hilfe meinen, in um so schwerere Gewissensbedenken uns ver¬
strickt. Sie wirkt aber auch auf die Bettelnden verderblich, denn sie macht die
Führung eines geordneten Hausstandes, die auch unter dem Drucke der Armuth
noch möglich ist, unmöglich , befördert bei Erwachsenen die Entwicklung der
Neigung zu Lüge, Trägheit, Trunk und Verbrechen, verhindert bei Kindern
geordnete Pflege des geistigen und sittlichen Lebens und füllt die Reihen der
Unbrauchbaren und Prostituirten wie die Räume der Gefängnisse und Zucht¬
häuser. Dennoch fährt die Mehrzahl der Familien fort, unbekannte Leute zu
beschenken.

Zum Schlüsse nur noch ein paar statistische Einzelheiten. In Berlin wurden
1879 bloß im Asylverein über 120000, in städtischen Asylen über 110000
Obdachlose beherbergt, polizeilich in Gewahrsam gebracht wegen Obdachlosigkeit
8350, wegen Bettelns 13000. In dem kleinen Offenbach übernachteten allein
im Januar 1800 Obdachlose. Die von Gemeinden in Deutschland an „arme
Reisende" gereichten Unterstützungen werden auf ^ Milliarde das Jahr geschätzt,
und eben so hoch die auf Verpflegung der Sträflinge in den Arbeitshäusern
und Gefängnissen verwendete Summe.

Wenn unser Mitleid und unsere Mildthätigkeit die falschen Bahnen nicht
verläßt und richtige einschlägt, vereiteln wir alle Bemühungen von Behörden
und Vereinen, die Massenverarmung zu bekämpfen.




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[0262] England Bettelprvfessoren und Schriften geben, welche die Kunst des Bettelns lehren, und Karten, auf denen leichtgläubige und freigebige Armenfreunde ver¬ zeichnet sind. In einem sprachlichen Werke, DiotioQrmr^ ok Lila^ (London, Hollen), finden sich z. B. für Leute, die unter dem Deckmantel des Hausirhan¬ dels den Bettel und die Gelegenheitsdieberei betreiben, bestimmte Signale an¬ gegeben, welche in deutscher Uebersetzung ungefähr so lauten würden: „zu arm, nichts zu holen — überlaufen, verdorben, schon zu gewitzigt — religiös, da mußt du fromm thun — gefährlich, konntest leicht eingesponnen werden — nimm dich vor dem Hunde in Acht — hier darfst du nicht viel papeln — gut für Speisung" u. s. w. An Thüren, Steinen, Bäumen werden derlei Zeichen gleichfalls angebracht, die aber auch manchmal irreführen und von den guten Quellen ableiten sollen. Das Lächeln über solche Dinge erstirbt auf den Lippen, wenn man an die Summe von Elend und Verworfenheit denkt, die in diesem trüben Strome einhertreibt. Von Vereinen wird oft darauf hingewiesen, daß die Hausbettelei auf die Wohlhabende» schädlich wirkt, indem sie die Arbeit und Ruhe des Hauses stört, durch Erspähung der Gelegenheit zum Diebstahl den Besitz, durch Umhertragen ansteckender Krankheiten die Gesundheit gefährdet, daß sie das Gefühl lebendiger Theilnahme, auf das der würdige Arme ein Recht hat, abstumpft und, je ernster wir es mit der Hilfe meinen, in um so schwerere Gewissensbedenken uns ver¬ strickt. Sie wirkt aber auch auf die Bettelnden verderblich, denn sie macht die Führung eines geordneten Hausstandes, die auch unter dem Drucke der Armuth noch möglich ist, unmöglich , befördert bei Erwachsenen die Entwicklung der Neigung zu Lüge, Trägheit, Trunk und Verbrechen, verhindert bei Kindern geordnete Pflege des geistigen und sittlichen Lebens und füllt die Reihen der Unbrauchbaren und Prostituirten wie die Räume der Gefängnisse und Zucht¬ häuser. Dennoch fährt die Mehrzahl der Familien fort, unbekannte Leute zu beschenken. Zum Schlüsse nur noch ein paar statistische Einzelheiten. In Berlin wurden 1879 bloß im Asylverein über 120000, in städtischen Asylen über 110000 Obdachlose beherbergt, polizeilich in Gewahrsam gebracht wegen Obdachlosigkeit 8350, wegen Bettelns 13000. In dem kleinen Offenbach übernachteten allein im Januar 1800 Obdachlose. Die von Gemeinden in Deutschland an „arme Reisende" gereichten Unterstützungen werden auf ^ Milliarde das Jahr geschätzt, und eben so hoch die auf Verpflegung der Sträflinge in den Arbeitshäusern und Gefängnissen verwendete Summe. Wenn unser Mitleid und unsere Mildthätigkeit die falschen Bahnen nicht verläßt und richtige einschlägt, vereiteln wir alle Bemühungen von Behörden und Vereinen, die Massenverarmung zu bekämpfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/262>, abgerufen am 22.07.2024.