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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Jahrhunderte und nur allmählich durch eine vermittelnde Richtung einigermaßen
geschlossen, welche noch jetzt am Werke ist.

Die zuletzt erwähnte Partei hat sich die Aufgabe gestellt, die Juden ans den
Bildungsstand der deutschen Nation zu erheben und hiermit gleicher Geltung und
Berechtigung mit den Angehörigen der letzteren würdig zu machen, ohne denselben
ihr specifisch jüdisches Religionsbewußtsein zu nehmen, und sie hat diese Aufgabe
uicht ohne einige gute Resultate verfolgt, d. h. nicht ohne gute Erfolge in Betreff
ihrer Bildung und äußeren Erscheinung, nicht in Bezug auf die Naturanlage und
den Charakter, die sich vielmehr wie früher zu allen Zeiten und unter allen Um¬
ständen als unveränderlich erwiesen haben.

Die Reform, welche nun seit länger als zwölf Decennien in verschiedener Gestalt,
in Rabbinerversammlungen, in Laienvereinen gemäßigter und radikaler Art, in
Schule und Synagoge an der Umbildung des unter uns angesiedelten semitischen
Elements gearbeitet hat*), hat denjenigen Juden, die sich nicht gegen sie verschlossen,
ohne Frage ein besseres Aussehen verschafft. Sie hat ihnen auch andere Vortheile
gebracht. Diese Juden besitzen jetzt gute Schulen, und ihre Rabbiner sind wissen¬
schaftlich gebildete Leute. Sie haben andere kenntnißreiche Gelehrte nnter sich,
denen es nur, wie jenen, an Tiefe gebricht. Die Uebrigen haben ein leidliches, in
einzelnen Fällen ein gutes Deutsch sprechen und schreiben gelernt, sich bis zu
einem gewissen Grade ästhetischen Sinn erworben, sich für solche, die sie mögen
und brauchen, salonfähig gemacht. Nicht wenige haben in der schönwissenschaft¬
lichen Literatur der Deutschen eine Rolle gespielt, wenn auch mit Ausnahme von
Heine keine besonders erfreuliche. Wieder nicht wenige haben in unserem politischen
Parteileben für ihr Talent und ihren Ehrgeiz ein Gebiet gefunden, auf dem sie
nach ihrer Art Lorbeer" pflückten. Sie haben Mancherlei abgelegt, was unschön,
unzeitgemäß und nicht des Landes Brauch war. Wir müssen ihnen das Zeugniß
geben, daß sie in den vier Generationen, die seit dem Beginn der Reform oder der
"Selbstemancipation" dahingegangen sind, sich aus halbbarbarischen Orientalen in
großentheils recht "gebildete" Leute verwandelt haben. Sie hoffen nicht mehr auf
einen persönlichen Messias, sie wollen Jerusalem uicht wieder aufbauen, sie denken
nicht mehr an den Tempel und seinen Opfercultus; denn das sind heutzutage un¬
mögliche und, was uoch sicherer ist, uneinträgliche Dinge. Sie können jetzt in ihren
Synagogen eine Predigt hören und Musik genießen, sie können sich auf ihre Weise
erbauen, wozu es schöne deutsche Gebete giebt, und worin sie das wüste Geplärr
der alten Judenschule nicht mehr stört.

Das sind sicherlich sehr beachtenswerthe Errungenschaften, die uus erfreuen,
und die wir den Juden von Herzen gönnen. Wenn nur noch einige andere hinzu



*) Wir können diese Arbeit hier nicht im Einzelnen verfolgen, weisen aber darauf hin,
daß ein ausführlicher Ueberblick über dieselbe in einer Schrift- "Israel und die Gojim"
gegeben werden soll, welche Anfang Mai im Verlag von F. W> Grunow in Leipzig erscheinen
und auch andere Capitel unserer Betrachtung in reichlicher Erweiterung und Ergänzung
bringen wird.

Jahrhunderte und nur allmählich durch eine vermittelnde Richtung einigermaßen
geschlossen, welche noch jetzt am Werke ist.

Die zuletzt erwähnte Partei hat sich die Aufgabe gestellt, die Juden ans den
Bildungsstand der deutschen Nation zu erheben und hiermit gleicher Geltung und
Berechtigung mit den Angehörigen der letzteren würdig zu machen, ohne denselben
ihr specifisch jüdisches Religionsbewußtsein zu nehmen, und sie hat diese Aufgabe
uicht ohne einige gute Resultate verfolgt, d. h. nicht ohne gute Erfolge in Betreff
ihrer Bildung und äußeren Erscheinung, nicht in Bezug auf die Naturanlage und
den Charakter, die sich vielmehr wie früher zu allen Zeiten und unter allen Um¬
ständen als unveränderlich erwiesen haben.

Die Reform, welche nun seit länger als zwölf Decennien in verschiedener Gestalt,
in Rabbinerversammlungen, in Laienvereinen gemäßigter und radikaler Art, in
Schule und Synagoge an der Umbildung des unter uns angesiedelten semitischen
Elements gearbeitet hat*), hat denjenigen Juden, die sich nicht gegen sie verschlossen,
ohne Frage ein besseres Aussehen verschafft. Sie hat ihnen auch andere Vortheile
gebracht. Diese Juden besitzen jetzt gute Schulen, und ihre Rabbiner sind wissen¬
schaftlich gebildete Leute. Sie haben andere kenntnißreiche Gelehrte nnter sich,
denen es nur, wie jenen, an Tiefe gebricht. Die Uebrigen haben ein leidliches, in
einzelnen Fällen ein gutes Deutsch sprechen und schreiben gelernt, sich bis zu
einem gewissen Grade ästhetischen Sinn erworben, sich für solche, die sie mögen
und brauchen, salonfähig gemacht. Nicht wenige haben in der schönwissenschaft¬
lichen Literatur der Deutschen eine Rolle gespielt, wenn auch mit Ausnahme von
Heine keine besonders erfreuliche. Wieder nicht wenige haben in unserem politischen
Parteileben für ihr Talent und ihren Ehrgeiz ein Gebiet gefunden, auf dem sie
nach ihrer Art Lorbeer» pflückten. Sie haben Mancherlei abgelegt, was unschön,
unzeitgemäß und nicht des Landes Brauch war. Wir müssen ihnen das Zeugniß
geben, daß sie in den vier Generationen, die seit dem Beginn der Reform oder der
„Selbstemancipation" dahingegangen sind, sich aus halbbarbarischen Orientalen in
großentheils recht „gebildete" Leute verwandelt haben. Sie hoffen nicht mehr auf
einen persönlichen Messias, sie wollen Jerusalem uicht wieder aufbauen, sie denken
nicht mehr an den Tempel und seinen Opfercultus; denn das sind heutzutage un¬
mögliche und, was uoch sicherer ist, uneinträgliche Dinge. Sie können jetzt in ihren
Synagogen eine Predigt hören und Musik genießen, sie können sich auf ihre Weise
erbauen, wozu es schöne deutsche Gebete giebt, und worin sie das wüste Geplärr
der alten Judenschule nicht mehr stört.

Das sind sicherlich sehr beachtenswerthe Errungenschaften, die uus erfreuen,
und die wir den Juden von Herzen gönnen. Wenn nur noch einige andere hinzu



*) Wir können diese Arbeit hier nicht im Einzelnen verfolgen, weisen aber darauf hin,
daß ein ausführlicher Ueberblick über dieselbe in einer Schrift- „Israel und die Gojim"
gegeben werden soll, welche Anfang Mai im Verlag von F. W> Grunow in Leipzig erscheinen
und auch andere Capitel unserer Betrachtung in reichlicher Erweiterung und Ergänzung
bringen wird.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/186>, abgerufen am 22.07.2024.