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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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haft erschütternder Anblick! Und um ihn zu erhöhen, die vollendetste Natur-
wcchrheit in der Körperbildung, eine Individualisirung der Formen, die uns
porträtartig anmuthet und doch nicht die Heraushebung der Persönlichkeit aus
der Fülle gleichartiger Individuen erreicht. Es ist eben doch nnr irgend ein Gallier,
irgend ein Tod, wie er sich oft genug wiederholt haben mag, der uns mit einem
Schlage das Schicksal von Tausenden vor Angen führt, in dem Maße aber, wie
er verallgemeinert ist, auch das individuelle Interesse verliert.

Auch in diesen beiden Werken versäumte der Künstler nicht, unsere Vor¬
stellung realistisch durch Blut und Wunden zu berühren; aber wir werden
zugleich in das seelische Leben erhoben, das sich in der wilden und in der
finsteren Verzweiflung abspiegelt und uns den Zusammenbruch froher Hoffnung,
die nutzlos gewordene Ueberwindung von Kampf und Gefahren, die Enttäuschung
des oft erfüllten Siegesbewußtseins ahnen läßt. Der Mangel einer vollständig
zum Ausdruck gekommenen Einzelpersönlichkeit, während doch zugleich nur ein¬
zelne Individuen dargestellt sind, verleiht ihnen ferner um so leichter eine typische
Bedeutung und läßt uus in diesem Einzeluntergange den Untergang eines ganzen
Volkes erblicken, wodurch unser Gemüth noch tiefer ergriffen wird, obgleich
dieses Volk zur Rettung der Cultur untergehen mußte. Es ist ein Griff in die
Saiten des allgemeinen Menschengeschickes, und der Klang ist ein tieftrauriger.
Aber auch hier gelangt das Tragische nicht zum Durchbruch. Wir siud auch
hier auf eiuer Vorstufe, auf welcher zwar das körperliche Leiden nicht mehr
einseitig in den Vordergrund tritt, souderu ein seelisches Leiden zum Ausdruck
bringt, ohne jedoch seine Bedeutung als selbständiges und in seiner Wirkung
wohlberechnetes Element aufzugeben.

Diese Verwerthung des seelischen Leidens neben dem körperlichen zur Er-
zielung eiuer Schmerzempfindung scheint in der weiteren Entwicklung d.ieser
hier zu so bedeutenden Aeußerungen gelangten Kunstrichtung bald wieder zurück¬
getreten zu sein, um der Wirkung durch das körperliche Leiden den unbestrittenen
Vorrang zu lassen, dein Drange nach äußerlichen, gröberem Effect entsprechend,
welcher den abwärts gehenden Geschmacksepochen eigenthümlich ist: die abge¬
stumpften Nerven müssen durch gröbere oder pikantere Kost gereizt werden, die
feineren Mittel werdeu nicht mehr empfunden. Wenigstens lassen die uns über¬
lieferten Gruppen diesen Fortgang deutlich genug erkennen. Es sind der Far¬
nesische Stier in Neapel, dessen Künstler aus Tralles stammen solle:,, und die
Laokoonsgruppe im Belvedere des Vatican, welche aus Rhodos entstanden ist;
beide stehen wohl den pergamenischen Werken in Bezug auf ihre Entstehungszeit
nahe. In beiden Werken haben die Künstler sicherlich tragische Wirkung be¬
zweckt, in beiden Werken haben sie ihren Zweck nicht erreicht.

Die Farnesische Gruppe stellt uns den Augenblick einer Strafvollstreckung


haft erschütternder Anblick! Und um ihn zu erhöhen, die vollendetste Natur-
wcchrheit in der Körperbildung, eine Individualisirung der Formen, die uns
porträtartig anmuthet und doch nicht die Heraushebung der Persönlichkeit aus
der Fülle gleichartiger Individuen erreicht. Es ist eben doch nnr irgend ein Gallier,
irgend ein Tod, wie er sich oft genug wiederholt haben mag, der uns mit einem
Schlage das Schicksal von Tausenden vor Angen führt, in dem Maße aber, wie
er verallgemeinert ist, auch das individuelle Interesse verliert.

Auch in diesen beiden Werken versäumte der Künstler nicht, unsere Vor¬
stellung realistisch durch Blut und Wunden zu berühren; aber wir werden
zugleich in das seelische Leben erhoben, das sich in der wilden und in der
finsteren Verzweiflung abspiegelt und uns den Zusammenbruch froher Hoffnung,
die nutzlos gewordene Ueberwindung von Kampf und Gefahren, die Enttäuschung
des oft erfüllten Siegesbewußtseins ahnen läßt. Der Mangel einer vollständig
zum Ausdruck gekommenen Einzelpersönlichkeit, während doch zugleich nur ein¬
zelne Individuen dargestellt sind, verleiht ihnen ferner um so leichter eine typische
Bedeutung und läßt uus in diesem Einzeluntergange den Untergang eines ganzen
Volkes erblicken, wodurch unser Gemüth noch tiefer ergriffen wird, obgleich
dieses Volk zur Rettung der Cultur untergehen mußte. Es ist ein Griff in die
Saiten des allgemeinen Menschengeschickes, und der Klang ist ein tieftrauriger.
Aber auch hier gelangt das Tragische nicht zum Durchbruch. Wir siud auch
hier auf eiuer Vorstufe, auf welcher zwar das körperliche Leiden nicht mehr
einseitig in den Vordergrund tritt, souderu ein seelisches Leiden zum Ausdruck
bringt, ohne jedoch seine Bedeutung als selbständiges und in seiner Wirkung
wohlberechnetes Element aufzugeben.

Diese Verwerthung des seelischen Leidens neben dem körperlichen zur Er-
zielung eiuer Schmerzempfindung scheint in der weiteren Entwicklung d.ieser
hier zu so bedeutenden Aeußerungen gelangten Kunstrichtung bald wieder zurück¬
getreten zu sein, um der Wirkung durch das körperliche Leiden den unbestrittenen
Vorrang zu lassen, dein Drange nach äußerlichen, gröberem Effect entsprechend,
welcher den abwärts gehenden Geschmacksepochen eigenthümlich ist: die abge¬
stumpften Nerven müssen durch gröbere oder pikantere Kost gereizt werden, die
feineren Mittel werdeu nicht mehr empfunden. Wenigstens lassen die uns über¬
lieferten Gruppen diesen Fortgang deutlich genug erkennen. Es sind der Far¬
nesische Stier in Neapel, dessen Künstler aus Tralles stammen solle:,, und die
Laokoonsgruppe im Belvedere des Vatican, welche aus Rhodos entstanden ist;
beide stehen wohl den pergamenischen Werken in Bezug auf ihre Entstehungszeit
nahe. In beiden Werken haben die Künstler sicherlich tragische Wirkung be¬
zweckt, in beiden Werken haben sie ihren Zweck nicht erreicht.

Die Farnesische Gruppe stellt uns den Augenblick einer Strafvollstreckung


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[0112] haft erschütternder Anblick! Und um ihn zu erhöhen, die vollendetste Natur- wcchrheit in der Körperbildung, eine Individualisirung der Formen, die uns porträtartig anmuthet und doch nicht die Heraushebung der Persönlichkeit aus der Fülle gleichartiger Individuen erreicht. Es ist eben doch nnr irgend ein Gallier, irgend ein Tod, wie er sich oft genug wiederholt haben mag, der uns mit einem Schlage das Schicksal von Tausenden vor Angen führt, in dem Maße aber, wie er verallgemeinert ist, auch das individuelle Interesse verliert. Auch in diesen beiden Werken versäumte der Künstler nicht, unsere Vor¬ stellung realistisch durch Blut und Wunden zu berühren; aber wir werden zugleich in das seelische Leben erhoben, das sich in der wilden und in der finsteren Verzweiflung abspiegelt und uns den Zusammenbruch froher Hoffnung, die nutzlos gewordene Ueberwindung von Kampf und Gefahren, die Enttäuschung des oft erfüllten Siegesbewußtseins ahnen läßt. Der Mangel einer vollständig zum Ausdruck gekommenen Einzelpersönlichkeit, während doch zugleich nur ein¬ zelne Individuen dargestellt sind, verleiht ihnen ferner um so leichter eine typische Bedeutung und läßt uus in diesem Einzeluntergange den Untergang eines ganzen Volkes erblicken, wodurch unser Gemüth noch tiefer ergriffen wird, obgleich dieses Volk zur Rettung der Cultur untergehen mußte. Es ist ein Griff in die Saiten des allgemeinen Menschengeschickes, und der Klang ist ein tieftrauriger. Aber auch hier gelangt das Tragische nicht zum Durchbruch. Wir siud auch hier auf eiuer Vorstufe, auf welcher zwar das körperliche Leiden nicht mehr einseitig in den Vordergrund tritt, souderu ein seelisches Leiden zum Ausdruck bringt, ohne jedoch seine Bedeutung als selbständiges und in seiner Wirkung wohlberechnetes Element aufzugeben. Diese Verwerthung des seelischen Leidens neben dem körperlichen zur Er- zielung eiuer Schmerzempfindung scheint in der weiteren Entwicklung d.ieser hier zu so bedeutenden Aeußerungen gelangten Kunstrichtung bald wieder zurück¬ getreten zu sein, um der Wirkung durch das körperliche Leiden den unbestrittenen Vorrang zu lassen, dein Drange nach äußerlichen, gröberem Effect entsprechend, welcher den abwärts gehenden Geschmacksepochen eigenthümlich ist: die abge¬ stumpften Nerven müssen durch gröbere oder pikantere Kost gereizt werden, die feineren Mittel werdeu nicht mehr empfunden. Wenigstens lassen die uns über¬ lieferten Gruppen diesen Fortgang deutlich genug erkennen. Es sind der Far¬ nesische Stier in Neapel, dessen Künstler aus Tralles stammen solle:,, und die Laokoonsgruppe im Belvedere des Vatican, welche aus Rhodos entstanden ist; beide stehen wohl den pergamenischen Werken in Bezug auf ihre Entstehungszeit nahe. In beiden Werken haben die Künstler sicherlich tragische Wirkung be¬ zweckt, in beiden Werken haben sie ihren Zweck nicht erreicht. Die Farnesische Gruppe stellt uns den Augenblick einer Strafvollstreckung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/112>, abgerufen am 03.07.2024.