Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.muß in Berlin erobert werden; andere meinen zwar, in Wien, fügen aber Dies ungefähr die Meinung des Reichskanzlers, wenn wir seine Thätig¬ muß in Berlin erobert werden; andere meinen zwar, in Wien, fügen aber Dies ungefähr die Meinung des Reichskanzlers, wenn wir seine Thätig¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0096" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143151"/> <p xml:id="ID_311" prev="#ID_310"> muß in Berlin erobert werden; andere meinen zwar, in Wien, fügen aber<lb/> hinzu, daß der Weg nach letzterem über Berlin führe. Ist das so, dann müssen<lb/> wir uns nach einer Anlehnung umsehen, zumal Frankreich gegenwärtig zwar<lb/> durchaus friedfertig gesinnt erscheint, aber doch keine genügende Sicherheit vor<lb/> einem Angriffe von seiner Seite bietet, falls erfolgverheißeude Gelegenheit<lb/> sich präsentiren sollte, und jene Anlehnung ist gegeben. Jeder verständige und<lb/> unbefangene Beurtheiler der Dinge unter den zweiundvierzig Millionen Be¬<lb/> wohnern des deutschen Reiches würde am liebsten mit Rußland und Oester¬<lb/> reich zugleich auf gutem Fuße stehen. Wenn man aber gezwungen wird, eine<lb/> Wahl zwischen den beiden Nachbarn zu treffen, so können unverblendete Augen<lb/> über die Entscheidung nicht lange im Zweifel sein. Keineswegs blos nationale<lb/> Motive weisen mit aller Bestimmtheit auf Oesterreich-Ungarn hin. Dort sind<lb/> zehn Millionen Deutsche, die Magyaren sind aus guten Gründe:: ebenfalls<lb/> durchweg auf unserer Seite, wie seit Jahren, die Polen denken nicht daran,<lb/> russisch werden zu wollen, selbst den Tschechen schwebt nichts der Art vor,<lb/> man müßte denn mit dem Dutzend Jntransigenten rechnen, die nichts bedeuten.<lb/> Und selbst wenn Oesterreich ganz slavisch wäre, müßte man ihm bei der Wahl<lb/> den Vorzug geben. Rußland ist für sich stark genug, und wir können ihm als<lb/> Alliirte nicht viel nützen. Oesterreich ist der schwächere Theil von beiden, ob¬<lb/> wohl immerhin ein höchst respektabler Bundesgenosse bei der Vertheidigung,<lb/> und wir können ihm viel nützen, es hat ein starkes Interesse daran, uns zu<lb/> Freunden zu haben. Und umgekehrt, es kaun auch uns eine Stütze bei einer<lb/> Politik sein, deren erster und oberster Zweck Sicherung des Weltfriedens ist.<lb/> Wenn Oesterreich-Ungarn und das deutsche Reich sich zu diesem Zwecke ver¬<lb/> binden und dann vor den Augen derer, die auf Störung dieses Friedens<lb/> sinnen, mit ihren zwei Millionen Soldaten Rücken an Rücken stehen wie ein<lb/> ungeheures Karre in der Mitte des europäischen Kontinents, so werden die in<lb/> höherem Stile nihilistischen Politiker in Moskowien die Ausführung ihrer<lb/> Projekte schwerlich zu unternehmen wagen.</p><lb/> <p xml:id="ID_312"> Dies ungefähr die Meinung des Reichskanzlers, wenn wir seine Thätig¬<lb/> keit in Gastein und Wien recht deuten. Sie ist die Meinung der ungeheuren<lb/> Mehrheit des deutschen Volkes und sehr wahrscheinlich auch die der kleineren<lb/> deutschen Fürsten. Auch unter den höchsten Persönlichkeiten des preußischen<lb/> Hofes zählt sie dem Vernehmen nach ganz entschiedene Anhänger. Dagegen<lb/> verlautete bis zu dem Augenblick, wo wir diese Zeilen beendigten, noch nichts<lb/> darüber, daß man sie an der Stelle theile und zu verwirklichen geneigt sei,<lb/> von wo die oberste und letzte Entscheidung in derartigen Fragen ergeht, und<lb/> wenn wir nicht irren, so ist der Reichskanzler darüber abgereist.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0096]
muß in Berlin erobert werden; andere meinen zwar, in Wien, fügen aber
hinzu, daß der Weg nach letzterem über Berlin führe. Ist das so, dann müssen
wir uns nach einer Anlehnung umsehen, zumal Frankreich gegenwärtig zwar
durchaus friedfertig gesinnt erscheint, aber doch keine genügende Sicherheit vor
einem Angriffe von seiner Seite bietet, falls erfolgverheißeude Gelegenheit
sich präsentiren sollte, und jene Anlehnung ist gegeben. Jeder verständige und
unbefangene Beurtheiler der Dinge unter den zweiundvierzig Millionen Be¬
wohnern des deutschen Reiches würde am liebsten mit Rußland und Oester¬
reich zugleich auf gutem Fuße stehen. Wenn man aber gezwungen wird, eine
Wahl zwischen den beiden Nachbarn zu treffen, so können unverblendete Augen
über die Entscheidung nicht lange im Zweifel sein. Keineswegs blos nationale
Motive weisen mit aller Bestimmtheit auf Oesterreich-Ungarn hin. Dort sind
zehn Millionen Deutsche, die Magyaren sind aus guten Gründe:: ebenfalls
durchweg auf unserer Seite, wie seit Jahren, die Polen denken nicht daran,
russisch werden zu wollen, selbst den Tschechen schwebt nichts der Art vor,
man müßte denn mit dem Dutzend Jntransigenten rechnen, die nichts bedeuten.
Und selbst wenn Oesterreich ganz slavisch wäre, müßte man ihm bei der Wahl
den Vorzug geben. Rußland ist für sich stark genug, und wir können ihm als
Alliirte nicht viel nützen. Oesterreich ist der schwächere Theil von beiden, ob¬
wohl immerhin ein höchst respektabler Bundesgenosse bei der Vertheidigung,
und wir können ihm viel nützen, es hat ein starkes Interesse daran, uns zu
Freunden zu haben. Und umgekehrt, es kaun auch uns eine Stütze bei einer
Politik sein, deren erster und oberster Zweck Sicherung des Weltfriedens ist.
Wenn Oesterreich-Ungarn und das deutsche Reich sich zu diesem Zwecke ver¬
binden und dann vor den Augen derer, die auf Störung dieses Friedens
sinnen, mit ihren zwei Millionen Soldaten Rücken an Rücken stehen wie ein
ungeheures Karre in der Mitte des europäischen Kontinents, so werden die in
höherem Stile nihilistischen Politiker in Moskowien die Ausführung ihrer
Projekte schwerlich zu unternehmen wagen.
Dies ungefähr die Meinung des Reichskanzlers, wenn wir seine Thätig¬
keit in Gastein und Wien recht deuten. Sie ist die Meinung der ungeheuren
Mehrheit des deutschen Volkes und sehr wahrscheinlich auch die der kleineren
deutschen Fürsten. Auch unter den höchsten Persönlichkeiten des preußischen
Hofes zählt sie dem Vernehmen nach ganz entschiedene Anhänger. Dagegen
verlautete bis zu dem Augenblick, wo wir diese Zeilen beendigten, noch nichts
darüber, daß man sie an der Stelle theile und zu verwirklichen geneigt sei,
von wo die oberste und letzte Entscheidung in derartigen Fragen ergeht, und
wenn wir nicht irren, so ist der Reichskanzler darüber abgereist.
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