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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Mißbrauch, den die Virtuosen in dieser Richtung mit den Schwächen des Publi¬
kums treiben, so muß doch zugestanden werden, daß noch immer nur wenige
größer angelegte Naturen unter ihnen von dem Vorwurf der Effekthascherei
freizusprechen sind und statt der brillanten eigentlichen Virtuosenstückchen, die
doch im Grunde von sehr geringem positiven Kunstgehalt sind, lieber Werke
unserer besten Meister zum Coneertvortrage wählen, welche vielleicht weniger
flitterhaften Aufputz aufweisen, schließlich aber an den ausführenden Künstler
noch größere Anforderungen stellen. Oder wäre wirklich für einen Klavierspieler
von guter Technik eine Beethovensche oder Schubertsche Sonate soviel leichter
zu spielen als eine Polka von Raff oder ein Lisztscher Walzer? Oder bereitete
wirklich dem Auditorium der Vortrag einer Henseltschen Etude oder einer Jaell-
schen Paraphrase mehr Genuß als der des Schumannschen Karneval oder eines
Notturno von Chopin? Die Periode der Concertparaphrasen ist allerdings vor¬
über, seit die Komponisten in größerem Maßstabe direkt für die Virtuosen ar¬
beiten, oder besser seitdem die Virtuosen alle selbst komponiren und auch als
Komponisten und nicht nur als Bearbeiter angesehen sein wollen; auch wollen
wir durch obige Gegenüberstellungen nicht gesagt haben, daß Liszt und Raff
unter die kleineren Geister zu rechnen seien gegenüber Chopin und Schumann: es
ist aber nicht zu leugnen, daß die ersteren beiden häufig genug für die Virtuosen
geschrieben haben (d. h- Liszt für sich selbst), während den letzteren beiden dieser
Vorwurf nicht zu machen ist. Liszt und Raff gerade haben wir nur aus vielen
herausgegriffen, um an ihnen zu zeigen, wie die Virtuosen die auf den Effekt be¬
rechnete Auswahl ihrer Solostücke durch gut klingende Namen zu maskiren wissen.

Es ist anzuerkennen, daß in dieser Beziehung die neueste Zeit einige
Besserung gebracht hat, und es steht zu hoffen, daß unsere Virtuosen mehr und
mehr ihren Lehrberuf begreifen und nicht allein darin ihre Aufgabe sehen
werden, dem Publikum zu imponiren. Denn wenn irgend jemand auf die
Geschmacksrichtung des Publikums Einfluß hat, so sind es die Virtuosen, da
ihnen die Zuhörer in hellen Häuser zulaufen und ihren Vorträgen mit Spannung
und Interesse folgen. Man kann sicher sein, daß ein nicht unbeträchtlicher Theil
der dilettirenden Zuhörer sich am Tage nach dem Concert die Solopiecen zu
verschaffen sucht, welche der Klavierspieler vorgetragen hat, und unsere Musikalien¬
händler wissen das ja auch wohl zu benutzen, indem sie die betreffenden Stücke
rechtzeitig in den Schaufenstern auslegen. Ohne Zweifel liegt hierin eine große
Macht der Virtuosen, und es ist gewiß der beste Weg, einen unbekannten
Komponisten populär zu machen, wenn sich die Virtuosen seiner annehmen. Ein
mittelmäßiges Stück, mit virtuosen Raffinement gespielt, nimmt sich natürlich
viel besser aus als ein gutes, wenn es von Dilettanten zu Hause stümperhaft
probirt wird. Wenn die Virtuosen von dieser Macht den rechten Gebrauch


Mißbrauch, den die Virtuosen in dieser Richtung mit den Schwächen des Publi¬
kums treiben, so muß doch zugestanden werden, daß noch immer nur wenige
größer angelegte Naturen unter ihnen von dem Vorwurf der Effekthascherei
freizusprechen sind und statt der brillanten eigentlichen Virtuosenstückchen, die
doch im Grunde von sehr geringem positiven Kunstgehalt sind, lieber Werke
unserer besten Meister zum Coneertvortrage wählen, welche vielleicht weniger
flitterhaften Aufputz aufweisen, schließlich aber an den ausführenden Künstler
noch größere Anforderungen stellen. Oder wäre wirklich für einen Klavierspieler
von guter Technik eine Beethovensche oder Schubertsche Sonate soviel leichter
zu spielen als eine Polka von Raff oder ein Lisztscher Walzer? Oder bereitete
wirklich dem Auditorium der Vortrag einer Henseltschen Etude oder einer Jaell-
schen Paraphrase mehr Genuß als der des Schumannschen Karneval oder eines
Notturno von Chopin? Die Periode der Concertparaphrasen ist allerdings vor¬
über, seit die Komponisten in größerem Maßstabe direkt für die Virtuosen ar¬
beiten, oder besser seitdem die Virtuosen alle selbst komponiren und auch als
Komponisten und nicht nur als Bearbeiter angesehen sein wollen; auch wollen
wir durch obige Gegenüberstellungen nicht gesagt haben, daß Liszt und Raff
unter die kleineren Geister zu rechnen seien gegenüber Chopin und Schumann: es
ist aber nicht zu leugnen, daß die ersteren beiden häufig genug für die Virtuosen
geschrieben haben (d. h- Liszt für sich selbst), während den letzteren beiden dieser
Vorwurf nicht zu machen ist. Liszt und Raff gerade haben wir nur aus vielen
herausgegriffen, um an ihnen zu zeigen, wie die Virtuosen die auf den Effekt be¬
rechnete Auswahl ihrer Solostücke durch gut klingende Namen zu maskiren wissen.

Es ist anzuerkennen, daß in dieser Beziehung die neueste Zeit einige
Besserung gebracht hat, und es steht zu hoffen, daß unsere Virtuosen mehr und
mehr ihren Lehrberuf begreifen und nicht allein darin ihre Aufgabe sehen
werden, dem Publikum zu imponiren. Denn wenn irgend jemand auf die
Geschmacksrichtung des Publikums Einfluß hat, so sind es die Virtuosen, da
ihnen die Zuhörer in hellen Häuser zulaufen und ihren Vorträgen mit Spannung
und Interesse folgen. Man kann sicher sein, daß ein nicht unbeträchtlicher Theil
der dilettirenden Zuhörer sich am Tage nach dem Concert die Solopiecen zu
verschaffen sucht, welche der Klavierspieler vorgetragen hat, und unsere Musikalien¬
händler wissen das ja auch wohl zu benutzen, indem sie die betreffenden Stücke
rechtzeitig in den Schaufenstern auslegen. Ohne Zweifel liegt hierin eine große
Macht der Virtuosen, und es ist gewiß der beste Weg, einen unbekannten
Komponisten populär zu machen, wenn sich die Virtuosen seiner annehmen. Ein
mittelmäßiges Stück, mit virtuosen Raffinement gespielt, nimmt sich natürlich
viel besser aus als ein gutes, wenn es von Dilettanten zu Hause stümperhaft
probirt wird. Wenn die Virtuosen von dieser Macht den rechten Gebrauch


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[0369] Mißbrauch, den die Virtuosen in dieser Richtung mit den Schwächen des Publi¬ kums treiben, so muß doch zugestanden werden, daß noch immer nur wenige größer angelegte Naturen unter ihnen von dem Vorwurf der Effekthascherei freizusprechen sind und statt der brillanten eigentlichen Virtuosenstückchen, die doch im Grunde von sehr geringem positiven Kunstgehalt sind, lieber Werke unserer besten Meister zum Coneertvortrage wählen, welche vielleicht weniger flitterhaften Aufputz aufweisen, schließlich aber an den ausführenden Künstler noch größere Anforderungen stellen. Oder wäre wirklich für einen Klavierspieler von guter Technik eine Beethovensche oder Schubertsche Sonate soviel leichter zu spielen als eine Polka von Raff oder ein Lisztscher Walzer? Oder bereitete wirklich dem Auditorium der Vortrag einer Henseltschen Etude oder einer Jaell- schen Paraphrase mehr Genuß als der des Schumannschen Karneval oder eines Notturno von Chopin? Die Periode der Concertparaphrasen ist allerdings vor¬ über, seit die Komponisten in größerem Maßstabe direkt für die Virtuosen ar¬ beiten, oder besser seitdem die Virtuosen alle selbst komponiren und auch als Komponisten und nicht nur als Bearbeiter angesehen sein wollen; auch wollen wir durch obige Gegenüberstellungen nicht gesagt haben, daß Liszt und Raff unter die kleineren Geister zu rechnen seien gegenüber Chopin und Schumann: es ist aber nicht zu leugnen, daß die ersteren beiden häufig genug für die Virtuosen geschrieben haben (d. h- Liszt für sich selbst), während den letzteren beiden dieser Vorwurf nicht zu machen ist. Liszt und Raff gerade haben wir nur aus vielen herausgegriffen, um an ihnen zu zeigen, wie die Virtuosen die auf den Effekt be¬ rechnete Auswahl ihrer Solostücke durch gut klingende Namen zu maskiren wissen. Es ist anzuerkennen, daß in dieser Beziehung die neueste Zeit einige Besserung gebracht hat, und es steht zu hoffen, daß unsere Virtuosen mehr und mehr ihren Lehrberuf begreifen und nicht allein darin ihre Aufgabe sehen werden, dem Publikum zu imponiren. Denn wenn irgend jemand auf die Geschmacksrichtung des Publikums Einfluß hat, so sind es die Virtuosen, da ihnen die Zuhörer in hellen Häuser zulaufen und ihren Vorträgen mit Spannung und Interesse folgen. Man kann sicher sein, daß ein nicht unbeträchtlicher Theil der dilettirenden Zuhörer sich am Tage nach dem Concert die Solopiecen zu verschaffen sucht, welche der Klavierspieler vorgetragen hat, und unsere Musikalien¬ händler wissen das ja auch wohl zu benutzen, indem sie die betreffenden Stücke rechtzeitig in den Schaufenstern auslegen. Ohne Zweifel liegt hierin eine große Macht der Virtuosen, und es ist gewiß der beste Weg, einen unbekannten Komponisten populär zu machen, wenn sich die Virtuosen seiner annehmen. Ein mittelmäßiges Stück, mit virtuosen Raffinement gespielt, nimmt sich natürlich viel besser aus als ein gutes, wenn es von Dilettanten zu Hause stümperhaft probirt wird. Wenn die Virtuosen von dieser Macht den rechten Gebrauch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/369>, abgerufen am 23.07.2024.