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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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mus begeben hat, der an: Ende auch dem letzten Reste echter Kunst den Garaus
machen muß, und noch bedauerlicher, daß ein Künstler, der dieser Richtung,
durch glänzende Mittel unterstützt, huldigt, einen Einfluß auf die heranwachsende
Künstlergeneration gewinnt.

Bis zu welchen Exzessen dieser poesielose, allem idealen Streben abgekehrte
Naturalismus gelangen kann, beweisen die Bilder eines nicht unbegabten Ber¬
liner Malers Julius Jacob, der sich auf den nüchternen Standpunkt des
Photographen stellt und die Gegenstände im Raume neben und hinter einander
placirt, wie sie sein gänzlich ungebildetes Auge durch die Brille des Häßlichen
sieht. Er schneidet sich ein Stück aus dem Marktgewimmel des Berliner Dön-
hofsplatzes heraus und kopirt mit derbem, borstigem Pinsel Figur für Figur,
Haus für Haus, Schild für Schild ohne Sinn für bildmäßige Wirkung und
für Farbenharmonie. Je greller, je brutaler, desto bester, ist die Parole dieser
Farbenkleckser, die um jeden Preis Aufsehen erregen wollen. In eine ungleich
vornehmere Sphäre führt uns in diesem Jahre der belgische Naturalist Alexan¬
der Struys, der seit einigen Jahren an der Kunstschule zu Weimar wirkt.
Eine junge blasse Maid, eine überlebensgroße Figur im Kostüm der deutschen
Renaissance, sitzt in einem hohen Lehnstuhle am Fenster, durch dessen Scheiben
das volle Sonnenlicht auf die halb gebrochene Gestalt fällt. Die thränenmüden
Augen starren aus dem bleichen, felsenfarbenen, von bläulichen Schatten um¬
spielten Antlitz ins Leere. "Vergessen!" so belehrt uns der Katalog in lakoni¬
scher Hieroglyphe über den Gegenstand des Bildes. Ist es ein Gretchen,
welches unselige Gedanken im Kopfe bildet, oder, weniger tragisch, nur eine
arme Waise, die auf einen Augenblick der Schwere des auf ihr lastenden Ge¬
schicks erliegt? Durch eine solche Räthselsprache wird unzweifelhaft das Interesse
des Publikums an der sentimentalen, mit Thränen getränkten Leinwand erhöht.
Dem tiefer blickenden enthüllt sich dagegen die Ideenlosigkeit der modernen
Realisten, deren ganzer Verstand oft nur im Pinsel sitzt, in ihrer vollsten Blöße.
Wenn man den Deckmantel des pikanten Geheimnisses lüftet, sieht man nichts
als das Farbenspiel einer nuancenreichen Palette.

Es ist ein seltsames Verhängniß der deutschen Kunst, daß den meisten
Malern, welche über einen gewissen Gedankenreichthum verfügen, die technischen
Mittel ihrer Kunst so wenig geläufig sind, daß sie ihre Gedanken nur unvoll¬
kommen zum Ausdruck zu bringen vermögen. Wie sinnig, wie poetisch hat
Gustav Spangenberg die dämonische Macht des Irrlichts in der Gestalt
einer Nixe symbolisirt, welche in langem weißen, in einen Nebelstreif sich ver¬
lierenden Gewände über dem trügerischen Moraste schwebt, während ein Jüngling,
dem leuchtenden Sterne auf ihrem schönen Haupte folgend, bei jedem Schritte
immer tiefer einsinkt, sich immer tiefer in das Röhricht verwickelt! Aber wie


mus begeben hat, der an: Ende auch dem letzten Reste echter Kunst den Garaus
machen muß, und noch bedauerlicher, daß ein Künstler, der dieser Richtung,
durch glänzende Mittel unterstützt, huldigt, einen Einfluß auf die heranwachsende
Künstlergeneration gewinnt.

Bis zu welchen Exzessen dieser poesielose, allem idealen Streben abgekehrte
Naturalismus gelangen kann, beweisen die Bilder eines nicht unbegabten Ber¬
liner Malers Julius Jacob, der sich auf den nüchternen Standpunkt des
Photographen stellt und die Gegenstände im Raume neben und hinter einander
placirt, wie sie sein gänzlich ungebildetes Auge durch die Brille des Häßlichen
sieht. Er schneidet sich ein Stück aus dem Marktgewimmel des Berliner Dön-
hofsplatzes heraus und kopirt mit derbem, borstigem Pinsel Figur für Figur,
Haus für Haus, Schild für Schild ohne Sinn für bildmäßige Wirkung und
für Farbenharmonie. Je greller, je brutaler, desto bester, ist die Parole dieser
Farbenkleckser, die um jeden Preis Aufsehen erregen wollen. In eine ungleich
vornehmere Sphäre führt uns in diesem Jahre der belgische Naturalist Alexan¬
der Struys, der seit einigen Jahren an der Kunstschule zu Weimar wirkt.
Eine junge blasse Maid, eine überlebensgroße Figur im Kostüm der deutschen
Renaissance, sitzt in einem hohen Lehnstuhle am Fenster, durch dessen Scheiben
das volle Sonnenlicht auf die halb gebrochene Gestalt fällt. Die thränenmüden
Augen starren aus dem bleichen, felsenfarbenen, von bläulichen Schatten um¬
spielten Antlitz ins Leere. „Vergessen!" so belehrt uns der Katalog in lakoni¬
scher Hieroglyphe über den Gegenstand des Bildes. Ist es ein Gretchen,
welches unselige Gedanken im Kopfe bildet, oder, weniger tragisch, nur eine
arme Waise, die auf einen Augenblick der Schwere des auf ihr lastenden Ge¬
schicks erliegt? Durch eine solche Räthselsprache wird unzweifelhaft das Interesse
des Publikums an der sentimentalen, mit Thränen getränkten Leinwand erhöht.
Dem tiefer blickenden enthüllt sich dagegen die Ideenlosigkeit der modernen
Realisten, deren ganzer Verstand oft nur im Pinsel sitzt, in ihrer vollsten Blöße.
Wenn man den Deckmantel des pikanten Geheimnisses lüftet, sieht man nichts
als das Farbenspiel einer nuancenreichen Palette.

Es ist ein seltsames Verhängniß der deutschen Kunst, daß den meisten
Malern, welche über einen gewissen Gedankenreichthum verfügen, die technischen
Mittel ihrer Kunst so wenig geläufig sind, daß sie ihre Gedanken nur unvoll¬
kommen zum Ausdruck zu bringen vermögen. Wie sinnig, wie poetisch hat
Gustav Spangenberg die dämonische Macht des Irrlichts in der Gestalt
einer Nixe symbolisirt, welche in langem weißen, in einen Nebelstreif sich ver¬
lierenden Gewände über dem trügerischen Moraste schwebt, während ein Jüngling,
dem leuchtenden Sterne auf ihrem schönen Haupte folgend, bei jedem Schritte
immer tiefer einsinkt, sich immer tiefer in das Röhricht verwickelt! Aber wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/36>, abgerufen am 23.07.2024.