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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gebracht, so daß es fast scheinen möchte, als ob auch unser Volk verdammt
sei, in der schleimigen Gefühlsmoral des Pietismus zu verschmachten, unter
welcher die englische Kirche seufzt.

Aber der skeptische Forschergeist der Naturwissenschaften, dem unser Jahr¬
hundert so ungeheuere Fortschritte verdankt, war gerade der größte Widersacher
der unklaren Gefühlsmystik, und auch dieser Widersacher hat sich zu histori¬
schen Formen entwickelt. Dieser Geist, der stets verneint, begann mit der Auf-
klärung, stürzte die falschen Götzen angemaßter Autorität in den Staub, und
in Hellem Jubel über den ersten Erfolg durchmaß er eiligen Laufs die be¬
schränkte Sphäre seines Könnens -- die Natur --, degradirte den Menschen
zur Maschine, hob dessen individuelle persönliche Verantwortlichkeit auf und
chüele endlich durch einen seichten Humanismus der Sozialdemokratie und
der Verzweifelung an der befreienden Wahrheit, dem Nihilismus, die Wege.
schwärmerischer Pietismus scheint das sich praktisch äußernde Endresultat
des Christenthums, Nihilismus das der Naturwissenschaften zu sein.

In der That, sezirt man den modernen Durchschnittsmenschen und speziell
den Deutschen, in welchem der Kampf der Geister am mächtigsten tobte, so
findet sich als das Ergebniß der Erbschaft der vergangenen Generationen in
erschreckender Weise jenes seltsame Gemisch von Schwärmerei und Au-
toritätslosigkeit angehäuft, das wir "Romanheldenthum in der
Moral" nennen.

Der Sensualismus trug hierzu bei, indem er durch die Naturwissenschaften
die Autoritäten vernichtete, der Rationalismus, indem er durch einen schranken¬
losen Vernunftkultus zu einem Idealismus fortschritt, der, das absolute Wissen
statuirend, Ball spielte mit Sonne und Mond, der aber gerade dadurch den
Boden der Erfahrung verlor und zum mystischen Vehikel wurde. Das Hegel-
sche System, das sich innerhalb des Aristotelismus bewegte, versuchte diese
Schranken zu durchbrechen, aber es gelang nur durch jene grandiose Mystik
oder Begriffsdichtung, welche von Hegel für Logik ausgegeben wurde. Auf
dem Gebiete der Moral hat jene allgemeine Gefühlsmystik für alles Große,
Erhabene, Ueberverdienstliche sehr verderblich gewirkt. Es entstanden jene un¬
klaren, propagandistischen Heilandsnaturen, die unsre Zeit tagtäglich sieht, die,
indem sie sich auf ihr Gefühl für das Ueberschwängliche etwas zu gute thun,
über dem Truggold ihrer Heldentugend den Pfennig der täglichen Pflichter¬
füllung zu ehren vergessen. Die zweckwidrige Methode unserer Pädagogik, den
Kindern edle und verdienstliche Thaten in Wort und Bild in der Absicht als
Muster aufzustellen, ihnen dadurch einen nachhaltigen Enthusiasmus für das
Große und Erhabene einzuflößen, ist an der Tagesordnung. Unsere Jugend¬
schriften sind nach den Romanciers fast aller Länder "bearbeitet" und haben


Grenzboten IV. 1379. 41

gebracht, so daß es fast scheinen möchte, als ob auch unser Volk verdammt
sei, in der schleimigen Gefühlsmoral des Pietismus zu verschmachten, unter
welcher die englische Kirche seufzt.

Aber der skeptische Forschergeist der Naturwissenschaften, dem unser Jahr¬
hundert so ungeheuere Fortschritte verdankt, war gerade der größte Widersacher
der unklaren Gefühlsmystik, und auch dieser Widersacher hat sich zu histori¬
schen Formen entwickelt. Dieser Geist, der stets verneint, begann mit der Auf-
klärung, stürzte die falschen Götzen angemaßter Autorität in den Staub, und
in Hellem Jubel über den ersten Erfolg durchmaß er eiligen Laufs die be¬
schränkte Sphäre seines Könnens — die Natur —, degradirte den Menschen
zur Maschine, hob dessen individuelle persönliche Verantwortlichkeit auf und
chüele endlich durch einen seichten Humanismus der Sozialdemokratie und
der Verzweifelung an der befreienden Wahrheit, dem Nihilismus, die Wege.
schwärmerischer Pietismus scheint das sich praktisch äußernde Endresultat
des Christenthums, Nihilismus das der Naturwissenschaften zu sein.

In der That, sezirt man den modernen Durchschnittsmenschen und speziell
den Deutschen, in welchem der Kampf der Geister am mächtigsten tobte, so
findet sich als das Ergebniß der Erbschaft der vergangenen Generationen in
erschreckender Weise jenes seltsame Gemisch von Schwärmerei und Au-
toritätslosigkeit angehäuft, das wir „Romanheldenthum in der
Moral" nennen.

Der Sensualismus trug hierzu bei, indem er durch die Naturwissenschaften
die Autoritäten vernichtete, der Rationalismus, indem er durch einen schranken¬
losen Vernunftkultus zu einem Idealismus fortschritt, der, das absolute Wissen
statuirend, Ball spielte mit Sonne und Mond, der aber gerade dadurch den
Boden der Erfahrung verlor und zum mystischen Vehikel wurde. Das Hegel-
sche System, das sich innerhalb des Aristotelismus bewegte, versuchte diese
Schranken zu durchbrechen, aber es gelang nur durch jene grandiose Mystik
oder Begriffsdichtung, welche von Hegel für Logik ausgegeben wurde. Auf
dem Gebiete der Moral hat jene allgemeine Gefühlsmystik für alles Große,
Erhabene, Ueberverdienstliche sehr verderblich gewirkt. Es entstanden jene un¬
klaren, propagandistischen Heilandsnaturen, die unsre Zeit tagtäglich sieht, die,
indem sie sich auf ihr Gefühl für das Ueberschwängliche etwas zu gute thun,
über dem Truggold ihrer Heldentugend den Pfennig der täglichen Pflichter¬
füllung zu ehren vergessen. Die zweckwidrige Methode unserer Pädagogik, den
Kindern edle und verdienstliche Thaten in Wort und Bild in der Absicht als
Muster aufzustellen, ihnen dadurch einen nachhaltigen Enthusiasmus für das
Große und Erhabene einzuflößen, ist an der Tagesordnung. Unsere Jugend¬
schriften sind nach den Romanciers fast aller Länder „bearbeitet" und haben


Grenzboten IV. 1379. 41
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[0317] gebracht, so daß es fast scheinen möchte, als ob auch unser Volk verdammt sei, in der schleimigen Gefühlsmoral des Pietismus zu verschmachten, unter welcher die englische Kirche seufzt. Aber der skeptische Forschergeist der Naturwissenschaften, dem unser Jahr¬ hundert so ungeheuere Fortschritte verdankt, war gerade der größte Widersacher der unklaren Gefühlsmystik, und auch dieser Widersacher hat sich zu histori¬ schen Formen entwickelt. Dieser Geist, der stets verneint, begann mit der Auf- klärung, stürzte die falschen Götzen angemaßter Autorität in den Staub, und in Hellem Jubel über den ersten Erfolg durchmaß er eiligen Laufs die be¬ schränkte Sphäre seines Könnens — die Natur —, degradirte den Menschen zur Maschine, hob dessen individuelle persönliche Verantwortlichkeit auf und chüele endlich durch einen seichten Humanismus der Sozialdemokratie und der Verzweifelung an der befreienden Wahrheit, dem Nihilismus, die Wege. schwärmerischer Pietismus scheint das sich praktisch äußernde Endresultat des Christenthums, Nihilismus das der Naturwissenschaften zu sein. In der That, sezirt man den modernen Durchschnittsmenschen und speziell den Deutschen, in welchem der Kampf der Geister am mächtigsten tobte, so findet sich als das Ergebniß der Erbschaft der vergangenen Generationen in erschreckender Weise jenes seltsame Gemisch von Schwärmerei und Au- toritätslosigkeit angehäuft, das wir „Romanheldenthum in der Moral" nennen. Der Sensualismus trug hierzu bei, indem er durch die Naturwissenschaften die Autoritäten vernichtete, der Rationalismus, indem er durch einen schranken¬ losen Vernunftkultus zu einem Idealismus fortschritt, der, das absolute Wissen statuirend, Ball spielte mit Sonne und Mond, der aber gerade dadurch den Boden der Erfahrung verlor und zum mystischen Vehikel wurde. Das Hegel- sche System, das sich innerhalb des Aristotelismus bewegte, versuchte diese Schranken zu durchbrechen, aber es gelang nur durch jene grandiose Mystik oder Begriffsdichtung, welche von Hegel für Logik ausgegeben wurde. Auf dem Gebiete der Moral hat jene allgemeine Gefühlsmystik für alles Große, Erhabene, Ueberverdienstliche sehr verderblich gewirkt. Es entstanden jene un¬ klaren, propagandistischen Heilandsnaturen, die unsre Zeit tagtäglich sieht, die, indem sie sich auf ihr Gefühl für das Ueberschwängliche etwas zu gute thun, über dem Truggold ihrer Heldentugend den Pfennig der täglichen Pflichter¬ füllung zu ehren vergessen. Die zweckwidrige Methode unserer Pädagogik, den Kindern edle und verdienstliche Thaten in Wort und Bild in der Absicht als Muster aufzustellen, ihnen dadurch einen nachhaltigen Enthusiasmus für das Große und Erhabene einzuflößen, ist an der Tagesordnung. Unsere Jugend¬ schriften sind nach den Romanciers fast aller Länder „bearbeitet" und haben Grenzboten IV. 1379. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/317>, abgerufen am 23.07.2024.